Ich lasse Sand durch meine Hand rieseln und schaue ihm dabei zu, wie er, glitzernd in der untergehenden Sonne, die steile Dünenflanke vor mir nach unten rieselt. Das Bild ist magisch und insgeheim warte ich darauf, dass der Sand leise klimpert, wenn er fällt.
Überhaupt ist es hier, auf dieser Düne in der Namib-Wüste, so still, dass ich mich anstrenge, irgendein Geräusch zu hören. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich meinen Atem anhalte. Das mache ich unterbewusst aus irgendeinem Grund, wenn ich mich besonders konzentriere. Als könnte ich dann besser hören, als wäre es dann noch stiller.
Mein Blick wandert zwischen dem nächsten Häufchen Sand, das ich nach unten rieseln lasse, der kugelrunden Sonne, die den Himmel immer roter malt, und der Oryx-Antilope, die schon eine Weile unter dem einzigen, dürren Baum am Fuß der Düne steht.
Diese Oryx-Antilope ist so etwas wie Namibias Wahrzeichen. Denn die bis zu 1,80 Meter große, grau-beige Antilopenart mit den überdimensionalen geschwungen Hörnern gibt es nirgendwo sonst in Afrika. Sie ist der Beweis, meine Erinnerung daran, dass ich gerade tatsächlich in der Namib-Wüste sitze. Nicht auf dem Mond, nicht auf dem Mars.
Denn dieser Ort hier, der ist viel zu unwirklich, als dass er Teil unsere Welt sein könnte. Unwirklich schön.
Wenn ich gen Süden schaue, verliert sich mein Blick in diesem Meer aus Sand. Tausende Dünen müssen das sein, allein in meinem Blickfeld. Und dort, wo dieses Blickfeld am Horizont zu Ende ist, ziehen sich die Dünen weiter, immer weiter. Diese Wüste hört auch nach dem Horizont längst nicht auf. Mit „längst“ meine ich, dass sie sich über 2.000 Kilometer weiter Richtung Südafrika zieht. Düne an Düne, Sandkorn für Sandkorn.
Die Namib-Wüste ist nicht nur die trockenste der Welt, sondern auch die älteste. Ein Kunstwerk der Natur, so gleichmäßig, dass der Blick über dieses Dünenmeer einer Meditation gleicht.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufgegangen ist, stapfen wir wieder durch den weichen Sand. Zwei Schritte vor, einen zurück. Das ist der Rhythmus der Wüste – zumindest für all jene, die es auf die höchsten Dünen Namibias zieht. Und obwohl wir seit gestern Abend ahnen können, welches Gefühl uns begleitet, wie weit dieses Meer aus Sand reicht und wie laut seine Stille ist, bin ich auch jetzt wieder sprachlos.
Beim Blick ins endlose Orange ist es schwer zu glauben, dass der Atlantik nicht weit ist. Und dass es Zeiten gab, in denen das Wasser viel näher kam. Die einzige Erinnerung daran verbirgt sich hinter dem großen Kamm, den wir gleich mit langen Giraffenschritten nach unten springen werden: Dead Vlei. Eine ausgetrocknete Tonpfanne, in der mittlerweile versteinerte Bäume stehen: Akazien, die teilweise bis zu 500 Jahre alt sind, und von einer Zeit erzählen, in denen die Dünen aus dem Wasser ragten.
In diesem Moment hat mich Namibia endgültig in seinen Bann gezogen. Dabei sind wir, mein liebster Reisegefährte und mein Mann Felix und ich, gerade erst ein paar Tage in Namibia.
Wir sind hier, auf der Suche nach eben dieser Weite, nach Stille, nach einem besonderen Abenteuer auf dem afrikanischen Kontinent. Und obwohl wir hier zwischen den Dünen der Namib-Wüste bereits erahnen können, dass wir die Weite und die Stille hier auf jeden Fall finden werden, sogar schon gefunden haben, ist das erst der Anfang.
Das größte Abenteuer wartet auf uns
Während Felix mit unserem Wagen durch die letzten Ausläufer der Wüste surft, fällt mein Blick immer wieder auf die Karten, die neben mir in der Beifahrertür stecken. Es sind ein paar Verschiedene, weil Namibia groß ist und unsere Neugierde auch. Eine aber löst ein besonderes Kribbeln bei mir aus: »Kaokoveld« steht in Großbuchstaben auf dem Cover. Maßstab 1:250.000. Das Titelbild: eine dürre Landschaft, unendlich weit, obwohl sie hier gerade einmal 15 auf 25 Zentimeter groß ist.
Das Kaokoland ist die dürre Region im äußerten Nordwesten Namibias. Im Westen grenzt die Skelettküste an den erbarmungslosen Atlantik, im Norden bildet der Kunene-Fluss die Grenze zu Angola. Es ist so groß wie die Schweiz, doch leben dort gerade einmal 17.000 Menschen. Sie zählen zu den Naturvölkern Afrikas, gehören überwiegend der Stämme der Herero und Himba an. Noch heute leben die meisten von ihnen, wie auch damals schon in längst vergangenen Zeiten, in einfachen Lehmhütten, als Jäger und Sammler. Ackerbau ist im gesamtem Kaokoland kaum möglich, das leben ist wild und die Natur rau.
Ungefähr so lassen sich die Informationen zusammenfassen, die ich aus verschiedenen Reiseführern gesogen haben. Sehr sachlich wird über das Kaokoland geschrieben und doch weiß ich schon jetzt, dass dieses Abenteuer viele Emotionen bergen wird.
Wir haben fast 180 Liter Diesel in unseren Tanks, als wir das letzte Stückchen Zivilisation hinter uns lassen, als wir durch das „Tor zum Kaokoland“ schaukeln. Wir haben Wasser für zehn Tage an Board und genauso viel Essen. Zu unserer Notfallausrüstung gehören nicht nur zwei Ersatzreifen und ein Kompressor, weil wir auf den steinigen Pisten ständig unseren Reifendruck anpassen müssen – sondern auch ein GPS-Notfallsender, mit dem wir in brenzligen Situationen eine SMS mit unseren Standort-Koordinaten an die internationale Rettungsleitstelle versenden können. Handyempfang ist hier genauso rar wie frisches Gemüse.
Zwischen Sand-Tornados und Schlaglöchern
„Wir sind gut vorbereitet, oder?“, frage ich Felix, der konzentriert durch die staubige Windschutzscheibe schaut, um uns auf dieser windigen Bergstraße sicher durch das Labyrinth an Schlaglöchern zu manövrieren.
Es ist eine rhetorische Frage, wenn ich ehrlich bin. Weil ich gerade das Bedürfnis habe, noch einmal zu hören, dass wir die Theorie aus den Reiseführern richtig für die Praxis interpretiert haben.
Die Praxis nämlich liegt in Form eines Staubplateaus gerade vor uns. Und schon jetzt weiß ich, was all die sachlichen Hinweise und Empfehlungen der Reiseführer nicht vermitteln können: die Weite, die Einsamkeit. Die Sandwirbel, die über all Wegesrand wie kleine Tornados in der Luft stehen. Es scheint, als hätten sie nur darauf gewartet, bis endlich jemand ihren Weg kreuzt. Dann nämlich zwirbeln sie sich nicht länger auf der Stelle in die Luft, sondern fegen zur Seite und über unsere Windschutzscheibe. Der Sand klirrt auf dem Glas, für ein paar Sekunden ist die Luft nichts als Orange, bevor die Weite wieder glasklar vor uns liegt.
Seit drei Stunden schon werden wir auf den Autositzen durchgeschüttelt. 100 Kilometer sind wir seither gekommen. Sind von Sandpfannen, die weiter reichten als bis zum Horizont, über eine schroffe Passstraße gefahren. Die Stoßdämpfer ächzten. Mal müssen wir nach einer Passage durch scharfe Steine Luft aus den Reifen lassen, wenn wir vor der nächsten Sandpassage stehen. Mal müssen wir Luft hineinpumpen, wenn wir es durch ein Sandbett geschafft haben.
Jedes Mal, bevor ich die Autotür öffne, scanne ich die Umgebung ganz genau. Denn obwohl die raue Gegend lebensfeindlich scheint, gibt es hier ein paar ganz besondere Bewohner: Wüstenelefanten, die vor allem in den ausgetrockneten Flussbetten unterwegs sind.
Einer unserer größten Wünsche für dieses Abenteuer ist es, diese besonders angepassten Elefanten aufzuspüren – besser aber nicht in einem Überraschungsmoment, wenn ich mit dem Kompressor vor einem Autoreifen hocke.
Durch die Palmen-Oase zu den Wüstenelefanten
Der Wunsch, die seltenen Wüstenelefanten zu sichten, geht in Erfüllung. Nicht auf Augenhöhe mit dem Autoreifen, zum Glück, dafür mit Chips an unserer Seite: einer der wenigen Kaokoland-Bewohner. Chips gehört dem Stamm der Herero an und betreibt in Purros eine Campsite.
Egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit: gekleidet ist Chips immer wie ein waschechter Ranger. Mit einer Cap, die für den Schutz der Nashörner wirbt, einem T-Shirt, auf das er sich den Namen seiner Campsite gestickt hat, und in ausgewaschenen Khaki-Shorts.
„I can help you find the elephants“, hat er uns schon bei unserem Kennenlernen versprochen und selbstbewusst mit dem Kopf flussaufwärts genickt.
Dieses trockene Sandbett laufen die Elefanten im Wochenrhythmus auf und ab, auf und ab. Auf der Suche nach den zwei Dingen, die im Kaokoland am rarsten sind: Wasser und Pflanzen.
Die Bewohner in Purros wüssten immer, wo die Elefanten ungefähr sind, versichert Chips. Und vorgestern erst, da sei die ganze Herde genau dort langgelaufen, wo wir gerade geparkt und unser Dachzelt aufgeklappt hätten.
Chips deutet auf eine unübersehbare Linie brauner, handballgroßer Köttel, die sich keine drei Meter hinter unserem Wagen durchs dürre Gebüsch zieht.
Die Elefanten aber, die seien mittlerweile viel weiter flussabwärts, sagt Chips, und beweist es uns am nächsten Morgen.
Chips sitzt auf dem Beifahrersitz und späht durch das nach unten gekurbelte Fenster. Während Felix uns durch den tiefen Sand des Flussbettes lenkt – das übrigens ist gleichzeitig die unsichtbare Straße, die durch den östlichen Teil des Kaokolandes führt – wedelt Chips immer wieder mit der Hand, um Felix zum Bremsen zu bringen. Dann kneift er die Augen zusammen, schüttelt aber kurz später den Kopf.
Keine Elefanten. Fast drei Stunden lang, in denen wir auf Schotter-Plateaus halt gemacht, eine Palmen-Oase und ein Himba-Dorf passiert haben. Drei Frauen des Dorfs, die volle Wasserkrüge auf ihren Köpfen zurück ins Dorf balancieren, geben Chips dann den entscheidenden Hinweis.
Und genau dann, als ich längst nicht mehr damit gerechnet habe, wedelt Chips wieder mit seiner Hand, schüttelt dieses Mal aber nicht den Kopf – sondern streckt seinen Zeigefinger triumphierend aus dem Fenster.
Elefanten, Giraffen, Antilopen.
Plötzlich sind sie alle auf einmal da, in dieser Oase aus Bäumen und Palmen, ein verlorenes Grün in einer so trocknen Region, in der teils jahrelang kein Regen fällt. Und wir, wir sind mittendrin in diesem Schlaraffenland.
Planänderung: Wenn sich der Fluss die Straße holt
Bei Chips bleiben wir ein paar Nächte länger.
Hier haben wir einen Platz direkt am ausgetrockneten Flussbett, die Tage sind so einfach und wunderschön zugleich. Elefanten, Giraffen – und die galoppieren sogar direkt vor unseren Campingstühlen an uns vorbei –, Antilopen, Lagerfeuer, wir beide. Ich könnte glücklicher nicht sein, denn dieses Abenteuer gibt mir so viel mehr, als ich mir gewünscht hatte.
Nicht nur ohrenbetäubende Stille, unendliche Weite, Wüstenelefanten und echte, afrikanische Wildnis. Sondern auch die stetige Erinnerung daran, dass diese Wildnis so viel mächtiger ist als wir.
Das bringt wunderschöne Momente mit sich, zum Beispiel Millionen Sterne am Himmel, die durch keine einzige Lichtquelle gedimmt werden, oder auch eine ganze Herde Elefanten, die wir drei Stunden lang gesucht haben. Diese Wildnis erfordert aber gleichermaßen, dass wir uns nach ihr richten.
Heute bedeutet das für uns, dass wir unsere Route durch das Kaokoland nicht so fortsetzten werden, wie wir es irgendwann in unsere Straßenkarte eingezeichnet hatten.
Es führen nur wenige Routen von Ost nach West durch diese Region: Der steile Van Zyls Pass, der als die herausforderndste Route des südlichen Afrika gilt und sowieso nur in eine Richtung befahren werden sollte. Von West nach Ost – wir aber sind von Ost nach West unterwegs. Und ein paar wenige Alternativen, das sind die Optionen, die wir uns vorgenommen hatten. Die führen allesamt meist unsichtbar durch ausgetrocknete Flussbetten.
Neben diesen Routenvorschlägen sind sowohl in den Reiseführern als auch der Straßenkarte dicke Ausrufezeichen gemalt. Daneben der Hinweis auf Sturzfluten, die wie aus dem nichts das Flussbett überschwemmen und alles und jeden mitreißen. Das Tückische: Der Regen, der diese Sturmfluten verursacht, fällt so gut wie nie im Kaokoland selbst, sondern in den umliegenden Bergregionen, in denen die Flüsse entspringen. Wir sitzen also sehr wahrscheinlich bei knallblauem Himmel und Sonnenschein im Sand dieser Flussbetten, wenn uns diese Sturzfluten überraschen.
Und als wir Chips an unserem letzten Abend von unseren Plänen erzählen, schüttelt er plötzlich heftig den Kopf.
„No. No, no, no, no!“, sagt er. Und in seiner Stimme liegt das Ausrufezeichen, das auch in der Straßenkarte eingezeichnet ist.
Chips erzählt uns, dass solche Sturzfluten die Flussbetten in den vergangenen Tagen überschwemmt haben. An manchen Stellen sei das Wasser Metertief. Und unser Auto? Das ist dann plötzlich völlig nutzlos. Keine Chance, das Kaokoland wie geplant von West nach Ost zu durchqueren.
Felix und ich sitzen über unsere Straßenkarten gebeugt, wie so oft schon auf dieser Reise, und warten darauf, dass wie aus dem Nichts eine neue Route auftaucht.
Natürlich passiert das nicht. Es gibt also nur eine Möglichkeit: wir schaukeln auf der Strecke zurück, die uns hierher gebracht hat.
Chips zuckt mir den Schultern, ich auch. „Geht eben nicht anders“, sagt dann auch Felix.
Nächstes Ziel: die Tropen
Für einen Moment packt uns Wehmut. Wehmut darüber, dass wir nicht noch mehr von dieser afrikanischen Wildnis erleben können. Gleichzeitig aber spart uns diese Routenänderung viele Fahrstunden quer durch das Kaokoland.
Und das, was danach kommt, ist so viel mehr als eine Planänderung oder gar ein Kompromiss: nach dem Kaokoland nämlich entscheiden wir uns für den größtmöglichen Kontrast – und tauchen nach einem Meer aus Sand und Stein in die Tropen ein.
Die Caprivi-Region ist Namibias Nase im Nordosten. Ein schmaler, 500 Kilometer langer Landstreifen, der entlang der Flüsse Kunene und Okavango an Angola, Botswana und Sambia grenzt.
Die Region im Nordosten ist nicht nur einer der besiedeltsten Namibias, sondern auch die grünste. In den Flüssen wimmelt es nur so von Krokodilen, die Ufer sind übersäht von Gras, Sträuchern und Palmen. Zwischen ihnen sind Flusspferde zu Hause, Elefanten, Löwen, Giraffen, Zebras.
Und wir? Schon wieder mittendrin in diesem wilden Schlaraffenland. Schon wieder sprachlos.
Den letzten Abend im Busch Namibias verbringen wir, wie so viele Abende zuvor, am Lagerfeuer. Unser Blick wechselt zwischen den Flammen vor uns und den Sternen über uns. Wir müssen beide kein Wort darüber verlieren, wissen aber nur zugut: der Abschied von diesem Abenteuer wird ein Schwerer sein. Denn Namibia hat schon in den ersten Momenten, schon bei diesem ersten Sonnenuntergang auf der Düne in der Namib-Wüste, einen ganz besonderen Platz in unseren Herzen eingenommen.
Nach Namibia sind wir gekommen, weil wir auf der Suche waren: nach unendlicher Weite, bei der wir uns sicher sein können, dass sie auch am Horizont noch nicht zu Ende ist. Nach echter Wildnis, die nicht weichgezeichnet wurde. Nach Natur, die nicht von Strommasten und Pipelines geschnitten wird. Und nach eben diesem Abenteuer.
Das uns tanzen lässt, staunen lässt, und uns aus Begeisterung ein Schaudern über den Rücken treibt.
All das haben wir hier gefunden. Und noch so viel mehr.
Und wenn es einen Platz auf der Welt gibt, magisch genug, dass der Sand leise klimpert, wenn er nach unten rieselt – wenn es so einen Platz auf der Welt gibt: dann liegt er verborgen im Dünenmeer der Namib-Wüste.