Als Oonoos Kleinbus über das letzte Stück Wiese rumpelt, muss ich mich konzentrieren, um ganz langsam zu atmen. Mein Puls rast. Meine Hände sind eiskalt und verschwitzt. Immer wieder reißt Oonoo das Steuer zur Seite, um tiefen Löchern und riesigen Grasbüscheln auszuweichen. Aber das ist es nicht, was mich gerade so nervös macht.
Es ist der Fluss.
Der Fluss, an dem Oonoo uns gleich aussetzen wird. Und der ist keine 50 Meter mehr entfernt.
Oonoo ist unser Fahrer. Unser Fahrer ins Nirgendwo. Wir kennen ihn erst seit heute Morgen. Gesprochen haben wir seitdem kein Wort, weil wir einander nicht verstehen. Die letzten acht Stunden hat mir das nichts ausgemacht. Jetzt ist das anders. Es zerreißt mich fast, dass ich ihm keine Fragen stellen kann.
Sowas wie:
“Oonoo, bist du sicher, dass das auch die richtige Stelle ist?”
“Oonoo, bist du sicher, dass wir in der Gegend nach dem dürren Sommer genug Wasser finden werden?”
Stattdessen müssen wir Oonoo stumm vertrauen.
»Ab sofort haben wir keine Chance mehr, Fehler zu korrigieren«
Dann geht alles Schlag auf Schlag. Als würde man den Film mit Oonoo und uns in fünffacher Geschwindigkeit vorspulen.
Die Bremsen quietschen, die Türen gehen auf.
Wir nach draußen, Rucksäcke raus, Oonoo wieder rein.
Die Tür geht zu, der Motor knattert. Und es dauert nicht lange, da verschwindet Oonoo in einer Staubwolke am Horizont.
Jetzt sind wir allein. Irgendwo im Westen der Mongolei. Sie ist das am dünnsten besiedelten Land der Welt. Wenn wir jetzt was vergessen oder bei den Vorbereitungen einen Fehler gemacht haben – ab sofort gibt’s keine Chance mehr, ihn zu korrigieren.
Die ersten Schritt im Nirgendwo
Ich schaue von meinem Rucksack auf dem Boden zu Felix, zu seinem Rucksack auf dem Boden – und schließlich in die unendlich weite Steppe, die vor uns liegt. Und hinter uns.
Mein Herz klopft bis zum Hals.
Wir wissen nicht, welche Herausforderungen wir in den kommenden Wochen meistern müssen. Welche Fehler wir bei der Vorbereitung gemacht haben, ob wir diesem Abenteuer wirklich gewachsen sind.
Und obwohl es gerade nur eine Option für uns gibt – loslaufen – zögern Felix und ich erstaunlich lange.
Es ist ja aber nicht so, dass Oonoo zurückkommt oder uns sonst wer abholen würde, hätten wir uns das alles jetzt anders überlegt.
Also wuchten wir uns unsere Rucksäcke auf die Schultern, atmen ein paar Mal tief durch, und setzen dann die ersten Schritte in dieses Abenteuer.
Die Sonne brennt, hier auf 2.000 Metern über dem Meeresspiegel, Büsche säumen das Flussufer. Es riecht nach Salbei und Kamille.
Auf der Suche
“Warum machen wir das eigentlich?”
Zugegeben – das ist eine Frage, die wir uns in den folgenden Wochen, auf den folgenden Kilometern, immer wieder stellen. Wahrscheinlich vergeht kaum ein Tag, an dem wir sie nicht, zumindest stumm in Gedanken, formulieren.
Insgeheim haben wir darauf jedes Mal eine Antwort parat – wenn wir auch in manchen Situationen länger kramen müssen, um sie zwischen Anstrengung, Verzweiflung und Sorgen zu finden.
Früher oder später taucht die Antwort aber klar und deutlich auf:
Wir wollten echte Wildnis spüren. Unsere Füße auf einen Boden setzen, den zuvor vielleicht noch nicht viele Schuhe berührt haben. Wir wollten diese Landschaft erkunden, diese geheimnisvolle Welt, zu der es kaum Kartenmaterial und oft kein einziges Foto im Web gibt.
Wir wollten erfahren, wie weit und wild das am dünnsten besiedelte Land der Welt ist.
Wenn all unsere Ideen und Vorstellungen von der Welt ein Bilderbuch wären, dann sind alle Seiten, die zur Mongolei gehören, große weiße Löcher. Wir hofften, dass jeder Schritt dazu beitragen würde, die weißen Seiten mit Farbe zu füllen.
Stumme Gespräche: Unsere erste Nomadenbegegnung
Nachdem am Horizont zum ersten Mal eine kleine, weiße Jurte aufgetaucht war, dauert es nicht lange, bis ein kleines Mädchen euphorisch und wild fuchtelnd auf uns zu rennt. Ihr Bruder folgt ihr auf seinem Pferd, das gemächlich durch das hohe Gras trabt.
Die beiden sind die Kinder von Bat-Thahan – das stellt sich ein paar Momente später raus, nachdem wir uns von dem Mädchen in die Jurte haben zerren lassen.
Bat-Thahan, seine Frau und die neun Kinder schenken uns unsere erste Begegnung in einem Nomaden-Zuhause. Ein Nachmittag, ein Abend und eine Nacht geprägt von stummen Gesprächen, schüchternen Lachern. Einem mongolischen Abendessen, so authentisch es nur geht, das uns – sagen wir mal – wohl für immer in Erinnerung bleiben wird.
Wir geben uns alle Mühe, auf keinen Fall irgendetwas falsch zu machen. Ich steige über die Holzschwelle und nicht auf sie – dem Glauben der Mongolen nach würde das der Familie Unglück bringen. Wir warten, bis uns das Familienoberhaupt einen Platz auf dem Teppich zuweist. Dann setzen wir uns im Schneidersitz hin – damit unsere Fußsohlen nicht auf die Nomaden zeigen.
Wir malen unser Alter in den Sand. 22. 30. Sie machen es uns nach und zeichnen die Lebensjahre sämtlicher anwesender Familienmitglieder daneben. Bis der staubige Sandstreifen zwischen Teppich und Tierfell voller Zahlen ist. Wir zeigen ihnen unsere alten, russischen Militärkarten. Sie sind die einzigen Landkarten, die für unser Vorhaben, den mongolischen Westen zu Fuß als Selbstversorger zu durchqueren, präzise genug waren. Mit unseren Fingern fahren wir die Route nach, zehn Köpfe beugen sich über den blassen Kartenabschnitt, die Augen werden riesig. Dann nicken alle und einer von ihnen schwingt Zeige- und Mittelfinger so von vorn nach hinten, als würden die Finger laufen. Von da an ist das die Geste, mit der wir den Mongolen unser Vorhaben erklären. Die Finger wackeln, sie verstehen uns.
Die ganze Familie wackelt mit den Fingern, als wir uns nach unserem Abschied noch einmal umdrehen und winken.
In den nächsten Tagen taucht keine Jurte mehr am Horizont auf, niemand kommt auf uns zu gerannt.
In einem Land, das auch heute noch zum Großteil von Nomaden besiedelt wird, können wir nie wissen, wann wir das nächste Mal auf Menschen treffen werden. Alle drei Tage, weil wir in einer Region unterwegs sind, die mehrere Familien als ihren Sommer-Standort auserkoren haben? Oder erst wieder in drei Wochen?
Wir wissen nie, ob die nächste Jurte vielleicht nur drei Kilometer entfernt ist. Oder dreihundert.
Die Einsamkeit ist schneller als wir
Gut 400 Kilometer laufen wir quer durch die westlichen Provinzen der Mongolei.
Unsere Rucksäcke sind mehr als je zuvor Überlebenspakete – meiner wiegt rund 17 Kilogramm, Felix großer Yukon 70+10 gut 20 Kilogramm.
Eingepackt haben wir alles, was wir zum täglichen (Über)leben abseits der Zivilisation brauchen: Zelt, Isomatten, Schlafsäcke. Astronautennahrung, Wasser, Medikamente. Und jede Menge Mut.
Wissenswert: Trekking-Nahrung – So planst du die Verpflegung für längere Touren.
Tag für Tag warten neue Überraschungen auf uns, neue Herausforderungen, das große Glück und die Einsamkeit.
Einmal müssen wir unsere Route umplanen, weil der Fluss aus unserer Theorie in der Praxis vielmehr ein reißender Strom, ein Fjord zwischen zwei Bergflanken ist. Wir kämpfen uns Gebirgszüge nach oben, durchqueren mit letzter Kraft reißende Gletscherflüsse.
Während wir Tag für Tag, Kilometer für Kilometer, immer weiter durch die mongolische Einsamkeit laufen, lernen wir mit jedem Schritt etwas mehr.
Über uns, die Welt und die Magie der kleinen Momente.
Wir lernen, wie es sich anfühlt, sich in völliger Abgeschiedenheit auf einen einzigen Menschen verlassen zu müssen. Wir lernen, dass der Partner sich in einen wahren Helden verwandeln kann. Was es bedeutet, in unendlicher Einsamkeit Grenzen zu überwinden und Flüsse zu durchqueren. Dass Gespräche stundenlang auch ohne Worte stattfinden können.
Wir lernen, dass Freudentränen umso schneller in die Augen treten, wenn ihnen vorher Tränen aus Verzweiflung, Angst oder Wut den Weg freigemacht haben.
Nie hätten wir uns vorher vorstellen können, wie groß das Nichts ist. Wie das Nirgendwo aussieht. Weil der Platz in unserem Kopf nicht ausgereicht hätte.
Vor allem lernen wir, dass Neugierde zu den schönsten Erlebnissen führt und dass Einfachheit das größte Geschenk sein kann.
Damit wir all das nie wieder vergessen, hält die Mongolei am Morgen unserer letzten Etappe ein ganz besonderes Wunder parat.
Wenn Nomaden umziehen: ein Wunder zum Schluss
Die Wanderstiefel noch nass vom Vortag im Fluss, stehe ich an diesem Morgen mit der Zahnbürste im Mund vor unserem Zelt.
Lange höre ich die groben Rufe nur. Ein kratziges „Hoi, hoi, hoi“ hallt durch das enge Tal, vorbei an dem steilen Berghang, in dessen Schutz wir unser Zelt aufgeschlagen haben.
“Hoi, hoi, hoi! Hoi, hoi, hoi!”
Die Schreie werden lauter. Klingen, als ob ein Urvolk zur Jagd aufbrechen würde. So zumindest hätte ich mir das vorgestellt. Der Anblick, der sich uns Minuten später bietet, erschlägt uns beinahe.
Eine Herde dutzender Pferde donnert auf uns zu. Ein riesiger Krach. Wiehern, Tiergeschrei, “hoi, hoi, hoi”. Als uns die Nomaden auf ihren Pferden entdecken, scheinen sie ebenso entgeistert wie wir.
Was machen wir da auch?
Und was machen die?
Die Pferde galoppieren in erschreckendem Tempo auf uns zu, streifen unser Zelt beinahe, machen kurz vorher schockiert einen Satz zur Seite.
Als der älteste Nomade, wahrscheinlich das Familienoberhaupt, auf unserer Höhe ist, zieht er die Zügel stramm und befielt seinem Pferd, zügig stehen zu bleiben. Unter seinen Füßen baumeln ein paar Balken des Jurten-Gestells, die woanders keinen Platz mehr fanden. Auf einem Dromedar, das er an einem Strick hinter sich her zerrt, sitzt das jüngste Familienmitglied in einem selbst zusammengehämmerten Kindersitz. Er grüßt uns, doch weil unweit entfernt immer noch hunderte Ziegen mit einem riesigen Krach den schottrigen Berghang entlang schlittern, können wir ihn kaum hören.
Wir bewegen Mittel- und Zeigefinger und zeigen ihm, dass wir laufen.
Ein paar Momente später, als die Nomadenfamilie mit all ihrem Besitz an uns vorbeigezogen ist, dämmert es uns:
Es ist Herbst, zweimal im Jahr ziehen die Nomaden um. Einmal kurz vor Winter, einmal kurz danach. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Land mit knapp drei Millionen Einwohnern, viermal so groß wie Deutschland, Zeuge eines solchen Ereignisses zu werden, geht gefühlt gegen null.
Und so stehe ich da, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, die Zahnbürste in der Hand, Tränen in den Augen, und kann mein Glück kaum glauben.
Wenn Neugierde größer ist als Angst
All das hat angefangen mit einem einzigen, kurzen Moment.
Mit dem Augenblick, als Oonoo uns mitten im Nirgendwo aussetzte. Oder vielleicht schon vorher: In der Sekunde, in der sich dieses Abenteuer zum ersten Mal in unseren Köpfen geformt hat. Und wir wussten, wir müssen den weißen Flecken, der die Mongolei auf unserer Weltkarte war, mit Farbe füllen. Mit Erlebnissen. Mit Leben.
Heute bin ich unendlich dankbar, dass uns das gelungen ist. Weil unsere Neugierde größer war als all die Sorgen.