Der Elefant starrt mich an und ich starre zurück. Vor ein paar Sekunden ist er benommen aus dem Gebüsch gestolpert, sieht so aus, als hätten wir ihn bei seinem Mittagsschlaf überrascht. Die Augen hat er weit aufgerissen, den Kopf hoch in die Luft geworfen. Seine Ohren breit aufgestellt. Er macht keinen Mucks. Ist sicher drei Meter groß. Und – wie war das gleich? Fünf Tonnen schwer?
Bei dem Gedanken beschleunigt sich mein Herzschlag. Meine Hände werden schwitzig, meine Beine wackelig.
Stopp. Stille.
Vielleicht war es noch nie zuvor so wichtig, dass ich still bin. Und ich meine – wirklich still. So still, dass ich noch nicht einmal meinen eigenen Atem hören kann.
Das ist er also, denke ich mir: der Moment, für den ich hier bin. Er fühlt sich ewig an, dabei vergehen sicher nur Sekunden.
Diesen Moment – ich, zu Fuß, im afrikanischen Busch, umgeben von wilden Tieren – hab ich mir vorher in Gedanken so oft ausgemalt. Immer wieder, in allen Farben. Habe versucht, mir auszumalen, wie er sich anfühlen wird. Wie er aussehen wird, wie er riechen wird. Ich habe versucht, mir auszumalen, wie sich die Stille anhören wird, denn diese echte Stille, die schon beinahe schreit, die erleben wir nur selten.
Der Elefant ist es schließlich, der die Stille bricht. Er schüttelt den Kopf, sein Rüssel wirbelt den Staub unter seinen Füßen auf. Seine Augen werden wieder kleiner, die Ohren fallen entspannt nach hinten, er dreht sich zur Seite und stapft an uns vorbei. Würden die trockenen Blätter unter seinen Füßen nicht rascheln – es wäre nichts zu hören. Er geht, die Stille bleibt. Uns lässt er hier stehen, als wäre er nie da gewesen.
Wichtig ist nicht, wo wir herkommen – sondern wo wir hinwollen
Wir, das ist eine kleine, bunt zusammengewürfelte Gruppe aus Fremden und zwei Rangern. Ein paar von ihnen werde ich nach acht gemeinsamen Tagen und Nächten besser kennen als manche der Menschen, die mir im Alltag zu Hause ständig begegnen. Wir kommen aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Dänemark, Namibia, Südafrika. Aber das spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist nämlich, wohin wir wollen.
Zu uns selbst.
Das kann niemand leugnen, der sich dazu entschließt, acht Tage lang mit einem Rucksack auf dem Rücken und Stille auf der Zunge durch den Busch im Dreiländereck von Südafrika, Simbabwe und Mosambik zu marschieren. Der lieber draußen unter dem Sternenhimmel schläft und jede Nacht im Wechsel Wache hält, anstatt sich in einer Lodge auszuruhen. Der im Fluss nach Wasser buddelt und sich freut, wenn es nicht wieder nach der Büffelherde riecht, die die letzte Quelle von oben bis unten aufgewühlt hat.
Und ich weiß, für viele klingt es absurd, was ich im nächsten Satz schreiben werde:
Ich genieße all das so sehr.
Draußen auf dem harten Boden zu schlafen, dafür unter Millionen Sternen. Nachts während meiner Schicht das Camp vor wilden Tieren zu bewachen – anfangs mit unglaublich hohem Puls und unter riesig viel Adrenalin, dafür umgeben von der Magie einer afrikanischen Nacht. Ich genieße es auch, trübes und muffeliges Wasser aus nicht immer vertrauenswürdigen Quellen zu trinken – nicht, weil das in irgendeiner Weise gut schmeckt, sondern weil es für mich bedeutet, dass ich fernab in wilder Natur unterwegs bin. Lange genug, um Reserven immer wieder auffüllen zu müssen.
Hier im Busch drehen sich die Tage um alles, was für unser tägliches Überleben wichtig ist. In aller Einfachheit. Nicht mehr, vor allem aber nicht weniger. Und das ist für mich der echte Luxus.
Meine Liebe zum Weitwandern hat dort angefangen, wo sonst nichts ist
Das hier im afrikanischen Busch ist nicht meine erste Weitwanderung. Zu Fuß und aus eigener Kraft durch ein Land, eine Region, zu laufen, mit allem auf dem Rücken, was man zum täglichen (Über)leben eben so braucht – das ist eine Leidenschaft, eine Lebensweise, deren Ursprung für mich im dünnbesiedeltsten Land der Welt liegt. In der Mongolei.
Die Mongolei ist vier Mal so groß wie Deutschland und doch leben dort nur drei Millionen Menschen. Ihren Westen habe ich auf ungefähr 400 Kilometern zu Fuß durchquert. Über fünf Jahre ist das jetzt her, es war meine allererste Fernwanderung.
Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann gab es damals die ein oder andere Situation, in der ich mich gefragt habe, warum ich mit so einem Pilotprojekt denn nicht anderswo starte. Irgendwo anders, jedenfalls nicht im dünnbesiedeltsten Land der Welt. Lange hat es dann aber nie gedauert, und dieser Gedanke war wieder fort.
Heute bin ich überglücklich, dass ich mit dem Wandern als Selbstversorger genau dort angefangen habe – in der Mongolei. Weil ich seitdem erst weiß, wie wild die Wildnis wirklich ist. Und wie lebendig wir uns fühlen, wenn wir von nichts als endloser Natur umgeben sind.
Schon damals war Felix an meiner Seite. Felix, das ist seit Jahren mein liebster Reise- und Weggefährte, mein Partner zu allen Zeiten und mittlerweile sogar mein Mann. Die Welt erkunde ich am liebsten gemeinsam mit ihm.
Das bringt mich dazu, dass ich gerade mit dem Rücken an einen knallgrünen Fieberbaum gelehnt im Sand sitze. Die kleinen, dichten Blätter schützen mich vor der gnadenlosen Mittagshitze, die vor mir den ausgetrockneten Flusslauf des Limpopo flimmern lässt.
Meine Beine habe ich hochgelegt, auf Felix Rucksack. So sitze ich gerne und wann immer ich das tue, habe ich das Gefühl, dass uns nichts aufhalten kann. Der riesige Yukon 70+10 ist dabei wie ein Anker, wie der Fels in der Brandung. Weil er unsere Abenteuer immer schon begleitet, von Anfang an. Und zwischen all den Herausforderungen, die solche Wanderungen fernab der Zivilisation mit sich bringen, zwischen all den täglichen Überraschungen, ist dieser Rucksack, der mehr als halb so groß ist wie ich selbst, ein zuverlässiger Begleiter.
Zu Fuß durch den Busch – geht das überhaupt?
Ein kleines Fieberbaumblatt, das nach einem langsamen Segelflug auf meinem Oberschenkel landete, holt mich aus meinem Gedankenkarussell zurück in den Busch. Ich zerreibe den feinen, grünen Staub zwischen den Fingern, der sich von der Rinde der Fieberbäume ablöst, wenn man sie vorsichtig berührt. Die Daisy-Sträucher versprühten einen Geruch, für den man in teuren Seifenläden viel Geld bezahlt, und auf der anderen Seite des ausgetrockneten Limpopo zupfte eine kleine Herde Gazellen die letzten Blätter von einem dürren Strauch.
Obwohl ich mittlerweile schon dutzende Gazellen von dutzenden Sträuchern hab zupfen sehen, gibt es immer wieder diese Momente – Momente, in denen ich nicht glauben kann, dass wir wirklich zu Fuß im afrikanischen Busch unterwegs sind.
Denn es ist ja so, dass es gar nicht so einfach ist, zu Fuß durch den Busch zu laufen. Einerseits, weil es ohne entsprechende Ausbildung zwischen den großen Wildtieren einem Selbstmordkommando gleichen würde. Andererseits, weil es in den meisten Ländern genau deshalb sogar verboten ist.
Als klar war, dass dieses Jahr das richtige für meine erste Afrikareise sein wird, war dennoch genauso schnell klar, dass wir auch dort zu Fuß unterwegs sein wollen.
Die Lösung ein guter Kompromiss: In einer kleinen Gruppe unterwegs zu sein, begleitet von zwei Rangern. Mit Menschen, denen es um dasselbe geht wie uns. Ums Laufen, um den Luxus der Einfachheit. Die es genau wie wir genießen, abgestandenes Büffel-Wasser zu trinken.
Nachtwache: Irgendwo zwischen Angst und der größten Freiheit
Die nächsten Tage führen uns unsere Ranger Rob und Steve gut 80 Kilometer durch den Busch. Wir buddeln im ausgetrockneten Flussbett des Limpopo nach Wasser und graben in Löchern tiefer nach unten, die Elefanten schon vorbereitet haben. Wir lernen, den Vogel zu erkennen, der immer ein Indiz für Büffel ist, und beobachten Flusspferde, wie sie die letzten Sonnenstrahlen genießen. Wir verfolgen große, runde Elefantenspuren und sehen diese grauen Riesen sogar noch ein paar Mal. Wir laufen Umwege, um Büffeln aus dem Weg zu gehen, und hören bei unseren Nachtwachen die Hyänen kichern.
Das sind übrigens die Momente, die am eindrücklichsten sind, am intensivsten. Die, die nachts passieren.
Rob hatte uns von Anfang an vorgewarnt:
„Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass uns die Nachtwachen am Anfang ziemlich unangenehm sind.“
Und wie bei allem, was Rob sagt, schafft er es auch bei diesem Satz ganz ungewollt, dass er ihm eine eindringliche Tiefe verleiht. Er hat eine leise, sanfte Stimme, die man gleichzeitig nicht überhören kann. Rob selbst wirkt wie die Ruhe in Person. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wenn er nicht hierher passt, dann tut es wahrscheinlich niemand.
Bevor ich darüber nachdenken konnte, was genau an der Nachtwache so unangenehm sein könnte, lieferte Rob die Erklärung.
„Stellt euch vor: Alle aus der Gruppe schlafen, nur ihr seid wach. Ihr schaut, dass das Feuer nicht ausgeht, und ihr hört. Das ist das Wichtigste. Ihr hört ganz genau hin, was um euch herum passiert. Es kann sein, dass sich Elefanten unserem Camp nähern, oder auch ein Leopard. Das müsst ihr merken. So früh wie möglich. Und wenn es ernst wird, müsst ihr Steve oder mich wecken. Aber, was sag ich. Ihr werdet schon sehen, was ich meine. Wenn die Sonne weg ist, beginnt die erste Schicht.“
Und so sitze ich jede Nacht im Sand, nachdem die Sonne am brennenden Horizont verschwunden ist.
Es ist die allererste Nachtwache, die mir heute noch besonders tief im Gedächtnis steckt.
Die Nacht war so schwarz, dass ich die Übrigen aus der Gruppe, die ein paar Meter weiter auf der anderen Seite des Feuers verstreut auf ihren Camping-Matratzen lagen, schon gar nicht mehr erkennen konnte. Es stand kein Mond am Himmel, dafür funkelten eine Million Sterne über dem ausgetrockneten Limpopo, der die Grenze zwischen Südafrika und Simbabwe bildet. Ich zwirbelte das Stöckchen, mit dem ich ab und zu im Feuer rumstocherte, zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her. Jedes Mal, wenn sich wer aus der Gruppe bewegte und ein Schlafsack raschelte, schaute ich hektisch in die Richtung.
Noch konnte ich mich kaum auf das Wunder einlassen, das ich gerade erleben durfte. Nur ich ganz allein bin wach, irgendwo im afrikanischen Busch, zwischen Baobab-Bäumen, Palmen und weiß Gott welchen wilden Tieren.
Was, wenn eine Herde Elefanten vor unseren Luftmatratzen steht?
Ich erkannte den Mars am Himmel, weil er der einzige Planet war, der orangefarben schimmerte. Ich habe gelernt, Sterne und Planeten zu unterscheiden, weil Sterne funkeln und Planeten nicht. Fast jede Minute schwebte ein leuchtender Satellit durchs Bild. Ein Traum. Aber ein Traum, der mich in diesem Moment ziemlich beunruhigt hat.
Was, wenn das Feuer ausgeht?
Was, wenn ich nicht aufmerksam genug höre und erst zu spät merke, dass sich eine Herde Elefanten oder ein Leopard dem Camp genähert hat?
Was, wenn ich Rob oder Steve dann nicht wach bekomme?
Ich leuchtete immer wieder mit meiner Stirnlampe in die schwarze Nacht, um nach aufblitzenden Augen Ausschau zu halten. Und gleichzeitig wünschte ich mir nichts mehr, als auf keinen Fall welche zu sehen.
Aber Rob hatte recht. Nicht nur damit, dass diese Nachtwachen am Anfang wahnsinnig unangenehm waren. Sondern auch damit, dass sich das ändern wird. Und dass diese dunklen Stunden dann die größte Freiheit sein würden.
Und dann kehrt das Ur-Vertrauen plötzlich zurück
Irgendwann passiert auch hier das, was bisher auf allen Abenteuern passiert ist, bei denen wir der Welt zu Fuß so nah gekommen sind:
Ich bin fasziniert, ich staune und versinke in ihr.
Und wenn wir das erreichen, dann gehen gleichzeitig die Sorgen verloren und das Ur-Vertrauen in die Natur und alles um uns herum kehrt zurück.
Bei der letzten Nachtwache treten mir die Tränen in die Augen. Weil ich mir plötzlich nicht mehr vorstellen kann, meine Nächte nicht mehr unter dem afrikanischen Sternenzelt zu verbringen. Der beste Beweis dafür, dass ich angekommen bin – in der Wildnis Afrikas, aber auch wieder mehr bei mir selbst.
Als ich in der Ferne dann eine Herde Elefanten rumoren höre, muss ich grinsen. Vielleicht, ganz vielleicht, kommt das lauteste Tröten von dem einen Elefanten, den wir vor Kurzem noch aus seinem Mittagsschlaf gerissen haben.
Ich sehe das als Abschiedsgruß – denn schon morgen werden wir das Camp erreichen, unser Ziel zwischen Baobab-Bäumen.
Zu Fuß im afrikanischen Buch – das musst du wissen
Anreise: Wir waren in der Grenzregion zwischen Südafrika, Simbabwe und Mosambik unterwegs – das Gebiet gehört zum Greater Kruger Nationalpark. Die Anreise funktioniert am einfachsten mit einem Flug nach Johannesburg. Mit einem Mietwagen geht es dann rund 600 Kilometer gen Norden, die Fahrt dauert knapp sieben Stunden. Alternativ gibt es über die meisten Rangerschulen, die diese Walking Safaris anbieten, auch die Möglichkeit, mit einem Shuttle anzureisen.
Anforderungen: Auf unserem Trekking war die gesamte Gruppe als Selbstversorger unterwegs. Heißt: Wir alle hatten einen großen Rucksack mit der Ausrüstung für die gesamten acht Tage zu tragen. Ausgenommen Wasser – das konnten wir täglich an unterschiedlichen Quellen auffüllen. Mit der Ausrüstung und dem Essen hat jeder Rucksack trotzdem um die zehn Kilo gewogen. Damit haben wir täglich Strecken zwischen zehn und 17 Kilometer zurückgelegt, oft in sehr unwegsamem Gelände wie Buschland, Sand, Gestein.
Ausrüstung: Allen voran natürlich der Rucksack, der gut auf dem Rücken sitzt. Knöchelhohe Wanderschuhe, eine Isomatte und ein Schlafsack, der auf Temperaturen zwischen sieben und 15 Grad ausgelegt ist. Eventuell ein Biwaksack, wenn die Wettervorhersage Regen prognostiziert. Essen samt Gaskocher und Geschirr. Wanderstöcke machen das Laufen bequemer und geben Halt.