„Hast du das Essen eingepackt?“, fragt Daniel, während ich meine Wanderschuhe schnüre. Das Wichtigste für ihn. Als würde ich das vergessen.
„Hab ich. Hast du das Zelt?“ – „Ist unten drin.“, antwortet er und zurrt die Laschen des Backpacks fest. „Schlüssel!“, ruft er dann und schaut um sich. „Wo ist der Schlüssel…“
Wir sind spät dran. Eigentlich viel zu spät sogar. Es ist nach 14 Uhr und 13 Uhr wollten wir mit der Wanderung starten. Stattdessen hocken wir auf dem Boden vor dem Nationalpark und packen im Schnelldurchlauf unsere Sachen für die bevorstehende 2-Tages-Wanderung. Warum entspannt, wenn es auch kurz vor knapp geht. Sowas wie unser ungewolltes Lebensmotto.
Daniel findet den Schlüssel in seiner Hosentasche. Natürlich.
„Gut – haben wir alles?“
20 Minuten später starten die ersten Meter unserer 2-Tages-Wanderung am anderen Ende der Welt.
Auf der kleinen Insel Tasmanien
Vor ca. 3 Jahren wussten wir nicht mal, wo Tasmanien eigentlich genau liegt. Selbst wenn wir es gewusst hätten, hätten wir noch lange keine Ahnung gehabt, was man dort hätte sehen oder erleben können.
Aber es heißt ja nicht umsonst Reisen bildet und wenn wir eins von Tasmanien gelernt haben, dann Folgendes: dass dieser kleine, abgeschiedene Fleck auf der Karte eine der einzigartigsten Regionen unseres Planeten ist.
Die wichtigsten 3 Fakten vorab:
- Die Einheimischen nennen ihre Insel liebevoll „Tassie“.
- Tassie ist ein Bundesstaat Australiens
- Und dieser Bundesstaat war damals Teil des Festlands – bis die Landzunge vor 12.000 Jahren überflutet wurde und Tasmanien zu einer Insel wurde.
Tassie ist übrigens nicht größer als Bayern. Das ist meist auch der Grund, warum viele Reisende diesem kleinen Anhängsel von Australien nicht allzu viel Beachtung und Zeit schenken. „Warum sollte ich auf so einer kleinen Insel mehr als ein paar Tage verbringen, wenn ich doch Australiens Festland und Neuseeland vor der Nase habe?“
Berechtigte Frage. Die Antwort: Weil diese Abgeschiedenheit gleichzeitig der Grund für die einzigartige Wildnis ist. Denn diese hat dazu geführt, dass sich dort eine ganz eigene, besondere Natur entwickeln konnte – inklusive Tiere, die in vielen Teilen der Welt bereits ausgestorben sind.
Zweite Antwort: Eben weil so viele Menschen das Festland Australien oder Neuseeland der kleinen Insel vorziehen und man diese Natur meist für sich genießen kann! Tasmanien entführt dich in seinen üppigen Regenwald, lässt dich die höchsten Steilküsten der südlichen Hemisphäre bestaunen und die reinste Luft unserer Erde genießen. An den Buchten und Stränden zeigt Tassie dir seine paradiesische Strände – und wenn du zur richtigen Zeit da bist, auch Wale. Auf dem Weg von A nach B blickst du auf nichts als grüne Weiten, Weinfelder und zwischendurch blitzen die Bergspitzen der Insel auf…
Zum Beispiel der des Cradle Mountain.
Namensgeber des wohl bekanntesten Nationalparks auf Tasmanien, den wir gerade betreten, um uns 2 Tage lang von nichts außer Natur umgeben zu lassen.
Seit 4 Wochen bereisen wir Tasmanien nun und hatten vor der Reise absolut nichts geplant. Nur eines, das wussten wir von Anfang an: Dass wir genau diesen Wanderweg in genau diesem Nationalpark machen wollten. Zum Gipfel des berühmten Cradle Mountain.
Wir hatten schon viel darüber gehört und gelesen. Was hängen geblieben ist: Dass der Aufstieg einer der besonderen Art ist. Wir werden sehen.
Denn hier sind wir nun.
An den Füßen unsere Wanderschuhe.
Auf dem Rücken unsere Tatonka Yukons mit dem nötigsten, das wir brauchen.
Bereit, um all die Bilder, die wir vom Cradle Mountain Nationalpark gesehen hatten, nun mit eigenen Augen zu sehen.
Bereit, um all die Berichte, die wir gelesen hatten, beiseite zu schieben, um unsere eigene Geschichte zu schreiben.
Bereit, um die Gänsehaut zu genießen, die uns immer dann packt, wenn wir kurz innehalten und uns bewusstmachen, was wir da gerade erleben. Lass sie uns für heute… Reise-Gänsehaut nennen. Die, die immer gemeinsam mit ihrem treuen Begleiter daherkommt. Nämlich der inneren Frage: ‚Wir sind gerade wirklich hier, oder?’
„Wir können doch nicht jetzt schon Pause machen?!“
Keine Minute sind wir gegangen, schon stehen wir vor einem großen See. Dem Dove Lake. Eigentlich möchten wir hier schon am liebsten Stunden verbringen. Wenn wir nicht wüssten, dass uns noch mehr solcher Aussichten und solche Natur ein paar Kilometer weiter erwartet.
„Ich glaube, wir müssen hier links…“
Ab hier teilt sich der Weg in zwei: Eine Abzweigung nach links, eine nach rechts. Während die Besucher, die nur für einen Tagestrip im Nationalpark sind, den rechten Weg nehmen – gehen wir den linken. Und scheinbar als einzige. Gut, wir waren etwas spät dran, dennoch. Vor uns niemand. Hinter uns niemand. Der Wanderweg fühlt sich an, als hätten wir ihn ganz für uns allein. Die Natur um uns herum, als wäre sie unsere. Die Sonne, als würde sie nur für uns strahlen. Hatten wir nicht gelesen, dass man hier Glück haben muss mit dem Wetter? Scheinbar haben wir genau das heute.
Ohne auch nur einem Menschen zu begegnen trekken wir vorbei an dem Dove Lake, spüren, wie die Steigungen zunehmen, ziehen uns am Berg hoch, nutzen große Steine wie Treppen, verschnaufen, wo wir Schatten finden und bekommen eine leise Ahnung, was für eine wunderschöne Aussicht uns am ersten Aussichtspunkt erwarten wird.
Eine Stunde später machen wir den letzten Schritt
…um mit einem Male hoch oben am Hanson’s Peak zu stehen. Umgeben von nichts außer Seen und Bergen stehen wir dort. Können nicht anders, als auszuatmen und zu grinsen.
Du weißt nicht, wohin du zuerst schauen sollst. Wo du dich setzen sollst. Mit Blick zu den Bergen? Zu dem linken See? Dem rechten? Hinlegen und genießen? Letztlich stehen wir einfach nur da. Und lassen unsere Augen genießen.
„Da hinten ist glaube ich der Cradle Mountain. Da werden wir dann wohl morgen stehen…“, sagt Daniel. Unser Wanderweg nämlich wird uns einmal um den Cradle Mountain herumführen – um ihn dann am Ende zu besteigen.
Nicht selten schauen wir ihn genauer an und versuchen herauszufinden, was für ein „besonderer“ Aufstieg uns da erwartet. Rutschig? Steinig? Steil?
Eigentlich könnten wir von hier nun wieder zurück zum Parkplatz zu unserem Van laufen. Doch in unseren Yukons wartet ein Zelt darauf in der Natur ausgebreitet zu werden und uns einen Schlafplatz unter den Sternen zu bieten.
Wir gehen durch kleine Sümpfe, vorbei an weiteren kleinen Seen, vorbei an dichten Bäumen und Büschen – und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an Schlangen. Bis wir einige Stunden später am Campplatz ankommen. Eine kleine Hütte steht dort bereit, die bei schlechten Wetterbedingungen Schutz bietet. Wir gehen an ihr vorbei, denn unser Bauchgefühl zieht uns durch die dichten Bäume, um uns zu einem wunderschönen Schlafplatz zu bringen.
Wir übernachten direkt am See. Mit Blick auf das spiegelglatte Wasser und dem Cradle Mountain im Rücken.
Die Nacht im Zelt war wärmer als erwartet
Aber der erste Blick nach draußen genauso wie erhofft: Wir ziehen den Reißverschluss auf, hören bereits das Wasser des Sees leise vor sich hin plätschern und schauen direkt in den strahlend blauen Himmel. Und auf unser Ziel für den heutigen Tag.
Die Berichte über den Track bis zum Gipfel versprachen einiges für heute. Verflucht steil, man muss klettern, sollte aufpassen und nicht den Backpack mit hochnehmen. Und man solle aufhören, wenn man meint es nicht weiter zu schaffen. Vorsichtig sein, wo man hintritt. Wir geben zu: Wir sind fast schon mehr gespannt auf den Track als auf die Aussicht bei den ganzen Aussagen!
Aber gut. Schritt für Schritt.
Und so packen wir das Zelt zurück in den Yukon, verstauen unsere Sachen, schnüren die Schuhe und 20 Minuten später ist der Platz so, als wäre nie etwas gewesen.
Weiter auf dem Weg begegnen wir den giftigen Schlangen Tasmaniens, die sich direkt vor uns ins Gebüsch zurückziehen, sobald sie unsere Schritte hören.
Das Wunderbare, wenn du mit einem Backpack und Zelt unterwegs bist: Egal wo, du hast ein Dach über dem Kopf und alles dabei, was du brauchst. Du kannst es jederzeit aus deinem Backpack ziehen. Und jederzeit wieder einpacken. Das Gefühl der reinsten Unabhängigkeit.
Der Track, für den wir uns entschieden haben, führt weiter um den Cradle Mountain herum. Wir begutachten quasi unser Ziel einmal von allen Seiten, bevor wir es angehen. Und mit jedem Blick auf den Gipfel kommt die Frage, wie steil und wie anstrengenden der Weg wirklich wird. Abenteuerlust und Vorfreude auf eine neue Herausforderung machen sich breit.
Weiter auf dem Weg begegnen wir den giftigen Schlangen Tasmaniens, die sich direkt vor uns ins Gebüsch zurückziehen, sobald sie unsere Schritte hören. Ab und an treten wir fest auf, um ihnen rechtzeitig Bescheid zu geben, dass wir kommen – denn immer noch sehen wir keine Menschenseele auf dem Track.
Und da stehen wir vor dem Schild: „Cradle Mountain Summit Track“.
Daneben liegen die ersten Backpacks von den Leuten, die sich heute für die Tageswanderung vom Eingang des Nationalparks zum Gipfel entschieden haben. Praktisch der direkte Weg. Hier tummeln sie sich also alle. Aber ja, es ist nun mal der berühmteste Track im Nationalpark und wohl auch einer ganz Tasmaniens. Wer schon mal hier ist, will sich diesen nicht entgehen lassen.
Wir machen es ihnen nach und nehmen nur das Nötigste mit: Trinkflasche, faltbare Daunenjacke, ein wenig Proviant, die Kamera.
Noch ist nicht zu erkennen, warum genau alle sagen, dass der Track so anspruchsvoll ist. Es geht Stufen hinauf. Anstrengend, ja, aber anspruchsvoll? Ich mein, es sind halt Stufen. Wir wohnen im vierten Stock ohne Aufzug, für uns ein Klacks.
Wir gehen weiter hoch, verschnaufen kurz, trinken etwas. Langsam aber merken wir: Es bleibt nicht bei den Stufen. Und zwar ganz und gar nicht.
Denn plötzlich stehen wir an dem Punkt, an dem wohl alle das gleiche denken: „Oh. Okay. JETZT weiß ich, was die ganzen Berichte alle meinten…“
Denn nachdem wir uns mit den niedlichen Stufen warmgelaufen haben, stehen wir plötzlich vor nichts außer einem Haufen durcheinander gewürfelter Felsen, die zum Teil größer als wir selbst sind. Der Weg? Markiert durch Stangen, die zwischen die Felsen gerammt sind. Wir stemmen die Hände in die Hüfte. Das ist dann also… worüber alle gesprochen haben. „Hallo, lieber Cradle Mountain. Man muss sich deine Aussicht gut erarbeiten, was?“ Aber kein Thema: Wir sind dabei!
Auf zum Gipfel.
Wir ziehen uns die Felsen mit beiden Händen hoch, kommen an Menschen vorbei, die nicht weitergehen möchten oder es ihnen aus Fitness-Gründen nicht möglich war und nun auf die Rückkehr ihrer Reisebegleiter warten.
Der nächste Felsen. Ich suche nach der richtigen Stelle, um dem Fuß Halt zu geben, ziehe mich hoch und stoße mit vollster Kraft das andere Knie gegen die Kante eines Felsens. Natürlich blutet es. Nicht viel, aber es reicht, um bemitleidenswerte Blicke der anderen zu ernten. Ich gebe zu: Der ultimative Moment, in dem man sich wie der reinste Abenteurer fühlt. Klar, man könnte auch meinen, ich habe meinen Körper nicht unter Kontrolle aber für mich war es die Abenteurer-Rolle. Mit einer Verletzung zum Cradle Mountain! Okay, mit einem Kratzer.
Der Weg wird nicht leichter, im Gegenteil.
Es ist ein Gefühl zwischen Abenteuerlust und der Frage, ob das Ganze hier einfach so für jedermann überhaupt zu beklettern sein sollte. Immerhin geht es direkt neben uns steil runter. Aber gut, das ist die Natur. Nicht immer seicht für die Menschen. Und damit eine Erinnerung an ihre Kraft und Macht.
Wir gehen über eine Rest-Schneedecke des Winters, wir ziehen uns noch einmal an den letzten Felsen hoch, bis wir ausatmen, uns aufrichten und merken: Wir sind da. Keine Felsen mehr. Nichts mehr vor oder über uns.
Und alles, was wir sehen ist die Weite Tasmaniens.
Wir haben es geschafft.
Wir sind am Gipfel des Cradle Mountain.
Und dann stehst du da.
Schaust mit einem Rundumblick runter auf all die Seen, an denen du die letzten Stunden standest und Pause gemacht hast. Auf all die Wanderwege, die wir heute und gestern noch gegangen sind. Klitzeklein schaut man sie an, als hätte sie jemand mit einem dünnen Buntstift ins Grün gezeichnet.
Eine Bucht, wie sie von Mutter Natur nicht schöner hätte gemalt werden können.
Ein Blick auf den Horizont und innerhalb einer Sekunde denke ich an die letzten Wochen auf dieser kleinen Insel. An unsere Erlebnisse, unsere Abenteuer, die Geschichten, die wir neu für uns geschrieben haben.
An die kleine Geschichte, wie wir in der Hauptstadt Tasmaniens Hobart angekommen sind und es nicht erwarten konnten die Insel mit dem Camper für uns zu entdecken. Die Küsten, die Weiten, das Meer, die Tiere, die Nationalparks. Ohne zu wissen, was genau uns erwarten wird.
Oder die Geschichte, wie wir auf der vorgelagerten Insel Bruny Island mit dem Boot an die Steilküsten fuhren und die Stellen sahen, wo damals Tasmanien von der Antarktis abbrach – und dann weiter zu Seelöwen, zu Millionen von Zugvögel und zu wilden Delfinen fuhren.
Wie wir im Freycinet Nationalpark auf die für Tasmanien berühmte Wineglass Bay schauten. Eine Bucht, wie sie von Mutter Natur nicht schöner hätte gemalt werden können.
…und einen Tag später dann mittendrin in der Bucht standen und nicht wussten, was schöner ist: es von oben zu sehen oder direkt davor zu stehen.
Wie wir auf den roten Steinen der Bay of Fires standen und Ausschau nach Buckelwalen hielten.
Wie wir im kleinen Narawntapu Nationalpark kilometerweit an einem Strand entlang spazierten, der den gesamten Abend nur uns gehörte.
…und umgeben von Kängurus auf dem Campingplatz im Nationalpark einschliefen und aufwachten.
Und die Reise ist noch nicht vorbei. Ich weiß, dass wir noch zum Mount Field Nationalpark fahren, dort zu den zweithöchsten Bäumen der Welt aufschauen und die bekannten Russel Falls besuchen werden.
Ich liebe die kleine Geschichte, wie es zu unserer Morgenroutine geworden ist, morgens unseren Kaffee direkt mit Meerblick genießen zu können.
Wie wir durch die Felder Tasmaniens fuhren, mit unendlich grünen Weiten und manchmal nichts außer ein Haus auf dem Weg lag.
Wie wir morgens von Kängurus begrüßt wurden, das erste Mal einen Wombat sahen und uns in einen Ameisenigel verliebten.
Wie wir mit dem Campervan durch das dichte Grün Tasmaniens fuhren, die Musik aufdrehten und das Gesicht aus dem Fenster hielten.
Und während wir da am Gipfel des Cradle Mountain stehen und an all die Erlebnisse auf dieser Insel zurückdenken kommt sie wieder.
Ganz plötzlich.
Und schießt durch den ganzen Körper.
Die Reise-Gänsehaut: „Wir sind gerade wirklich hier, oder?“