Vor mir steht ein Abenteuer: Nach dem Abitur ein Jahr in einem peruanischen Kinderheim mitten in der Anden-Einsamkeit arbeiten – dieser lang herbeigesehnte Traum ist nun zum Greifen nah. Doch für so eine Veränderung, die dein Leben plötzlich auf einen anderen Kontinent verlagert und so viele Fragen offenlässt, soll man dann einen Koffer packen. Ich verzweifle beinahe: Wie sollen denn all die kleinen Dinge, die mir so notwendig erscheinen, jetzt in meinen neuen Tatonka Yukon hineinpassen …
Nach tagelangem Schichten und strategischen Denken ist es geschafft, ich schultere meinen Weggefährten und steige voller freudiger Anspannung ins Flugzeug. Doch mit jedem geschafften Schritt steigt mein Selbstbewusstsein – das wird das beste Jahr meines Lebens!
Ankunft in Lima
So begleitet mich mein Rucksack erstmal in ein Kloster mitten im turbulenten Stadtviertel La Victoria in der Millionenhauptstadt Lima, und mein Mitfreiwilliger und ich ziehen als einzige Europäer weit und breit mit unserem Gepäck viele Blicke auf uns. Wir stehen im hektischen Gedrängel zwischen fliegenden Händlern, Taxis, Motorrädern, Obstständen und bangen, aus diesem Chaos wieder heil herauszukommen.
Was uns die ersten Tage regelrecht mit offenen Mündern staunen lässt, wird schnell zum Alltag und wir gehen selbstbewusst und zielstrebig durch die Straßen zum Markt, feilschen mit den Händlern um die Wette und tanzen mit den inzwischen gut vertrauten Klosterschwestern Salsa. Und endlich hab ich das Gefühl, nach vielen Jahren Schule und meiner kleinen heilen Welt zuhause, meinen eigenen Weg zu gehen und die Welt kennenzulernen.
Tarma – unser neues Zuhause
Doch die staubigen, lärmenden Straßen Limas sind nur ein Zwischenstopp auf unserer Reise in die Anden. Nach einigen Wochen im Kloster sitzen wir erneut mit gepackten Koffern gespannt im Auto und rasen (der ganz normale peruanische Fahrstil) über den verschneiten Ticlio-Pass auf 4800m nach Tarma – unserem neuen Zuhause! Ein kleiner Ort auf 3000 Metern, in den sich zwar fast nie ein „Gringo“ verirrt, der aber mit seinen wunderschönen Blumen- und Gemüsefeldern für die Versorgung der Region und Limas durchaus eine Rolle spielt.
Fleißige Bauern schuften den ganzen Tag auf dem Feld, begleiten ihre Ochsenpflüge oder ernten stolz ihre prächtigen Salatköpfe, die am nächsten Tag schon auf dem Dorfmarkt verkauft werden. In Tarma regiert die Landwirtschaft und es wird hart gearbeitet, trotzdem sind auch die Straßen immer lebendig. Man trifft sich zum Essen an den Straßenständen, feiert mit dem ganzen Dorf ausgiebig und mit kreativen Traditionen alle Feste und teilt bei einem kleinen Tratsch auf der Straße die Neuigkeiten.
Gegenseitiges Lernen im Kinderheim
Hier leben wir nun die nächsten zwölf Monate, und mein Rucksack wartet geduldig darauf, jederzeit neu aufzubrechen. Erstmal erlebe ich aber mein Abenteuer ohne ihn, denn der Arbeitsalltag beginnt: Jeden Tag fahren wir in einem völlig überfüllten Minivan über holprige Erdstraßen zum Kinderheim, wo etwa 40 Kinder darauf warten, uns gleichzeitig mit viel Schwung umzurennen, sodass wir oft bei der Begrüßung in einem Kuschelknäuel am Boden liegen.
Anfängliche Unsicherheiten, ob wir die Namen nicht alle durcheinanderbringen und welche Rolle wir als Freiwillige für die Kinder jeder Altersstufe einnehmen oder wie wir mit ihren schwierigen und belastenden Hintergründen umgehen, legen sich schnell. Sie nehmen uns offen und liebenswürdig auf, nehmen uns ab dem ersten Tag an die Hand, zeigen uns Zuneigung, ihre Lieblingsspiele und wir sind sofort Teil der wilden Horde. Wir müssen uns nicht beweisen, sondern werden bedingungslos aufgenommen so wie wir sind und mit dem, was wir an Ideen und Energie mitnehmen.
Ich bin dort hingekommen, um den Kindern zu helfen, Zeit zu schenken und um etwas Gutes zu tun – schnell aber lerne ich meine Lektion, dass es so nicht läuft – es beruht vollkommen auf Gegenseitigkeit, und jeden Tag lerne ich etwas Neues von den Kindern, von den Leuten und deren Lebensweise und merke, dass es abseits von Deutschland so viele Kulturen gibt, die andere Wege einschlagen.
An den Herausforderungen wachsen
Die Uhren laufen vielleicht in Südamerika anders, das Wirtschaftswachstum ist nicht ideal und das politische System auch nicht ganz intakt, aber es zählt etwas anderes. Ich brauche viel Zeit, viele Gespräche und viel Geduld, um wirklich dort anzukommen und mich wie zuhause zu fühlen. Es ist anstrengend, in die Ferne zu gehen und sich an andere Kulturen und Bräuche anzupassen, den ganzen Tag Spanisch zu reden und die Fremde zu sein. Es gibt Missverständnisse, wir warten oft stundenlang auf Freunde, bekommen auf der Straße viele neugierige Blicke zu spüren und werden auf Festen zum Tanzen plötzlich in die Mitte gedrängt.
Im Heim spiele ich jeden Tag mit Kindern, die nicht wie ich im bayerischen Reihenhaus aufwuchsen und Geige lernen, Sport treiben, sondern schon als Kleinkinder zwischen die Fronten im Elternhaus gerieten und ihre Familien zu ihrem eigenen Schutz verlassen mussten. Aber ich lerne auch: Es sind genauso Kinder, sie lachen und weinen, stellen Fragen und überraschen einen nicht selten mit ihrem ausgeprägten Charakter und ihrer euphorischen, verspielten, aber auch ehrlichen Sicht auf die Welt.
Mit der Zeit wachse ich mit den täglichen Herausforderungen, plaudere selbstverständlich mit den Leuten auf der Straße, kann peruanische Rezepte kochen und tanze und singe in vorderster Reihe bei den Festen. Das Leben in Peru ist voller Freude und Emotionen, die Leute helfen sich gegenseitig und haben immer ein Späßchen parat. Das was man hat und bieten kann, wird mit anderen geteilt und auch zu den häufigen Festen ist jeder eingeladen. Ich bin jeden einzelnen Tag glücklich und dankbar, dort zu sein!
Mein blauer Reisegefährte in den peruanischen Anden
Immer wieder packt mich aber auch im peruanischen Alltag die Reiselust und ich schnappe mir den Tatonka Yukon. Mit meinem blauen Rucksack verbinde ich das Brennen auf Abenteuer und neue Entdeckungen, vollkommen spontan und ohne Plan los zu reisen – hier lasse ich auf mich zukommen, wohin es mich treibt. Mal ist es nur ein Wochenende im nahegelegenen Regenwald, wo wir in Wasserfällen baden, beim Wandern in Oxapampa Affen beobachten und uns wie in den Dokumentationen von National Geographic fühlen.
Sobald wir aber unsere Urlaubswochen haben, steige ich in den nächsten Nachtbus und beginne, den Süden und Norden des Landes zu erkunden, dem ich inzwischen kulturell so nahegekommen bin. Mein Reisestil ist alles andere als bequem, oft übernachte ich auf meinem Rucksack sitzend in Busterminals, fahre auf Ladeflächen neben Schafen und Enten mit oder stehe um vier Uhr morgens auf, um rechtzeitig die großen Bergtouren zu beginnen, aber ich liebe es. Ich spüre eine besondere Freiheit und Lebendigkeit, quatsche dauernd mit neuen Leuten, die mir ihre Sicht aufs Leben zeigen und lerne die enorme Vielseitigkeit des Landes kennen – kulinarisch, landschaftlich und kulturell!
Von Huarez in die Berge
Das schönste Erlebnis für mich als Bergfreak sind die Tage in Huaraz, die ich mit einem engen Freund von zuhause teilen darf. Wir füllen unsere Rucksäcke mit Essen, Zelt, Schlafsack und Gipfelbier und vereinen die Treks Ulta und Santa Cruz. Jeder hat 15 Kilo auf dem Rücken, an die wir uns erst noch gewöhnen müssen – dank dem guten Trägersystem geben wir nicht auf und es ist erträglich. Wir schlafen unter einem unglaublichen Sternenfirmament auf 4000 Metern in kleinen Lichtungen oder direkt neben türkisblauen Lagunen, treffen keine Menschenseele und fordern uns physisch gesehen durch viele Höhen- und Streckenkilometer in kurzer Zeit ganz schön.
Kennt ihr das Gefühl, wenn man in den Bergen ist und sich zwar ein bisschen quält, aber innerlich total loslassen kann? Wenn man durch gleichmäßigen Rhythmus zur Ruhe kommt und aus einem heillosen Durcheinander im Kopf klare Gedanken werden, du „über den Dingen stehst“. Und dann die beeindruckende Landschaft um dich herum, du stehst am Gipfel, hast einen genialen Ausblick und jeder Schritt hat sich gelohnt. Das Leben in den Bergen ist für einige Tage unkompliziert, alles, was du brauchst, trägst du auf dem Rücken und es reicht vollkommen aus. Wenn ich mit meinem Rucksack unterwegs bin, vermisse ich nichts Materielles und jedes weitere Besitztum wäre im wahrsten Sinne des Wortes eine weitere Last, die du mit dir herumschleppst.
Ein Rucksack, gefüllt mit wertvollen Erfahrungen
Wenn ich reise, fällt es mir oft schwer, an das Ankommen im Alltag zu denken – ich habe Angst, die Unbeschwertheit zu verlieren und möchte meinen Rucksack am liebsten gar nicht mehr absetzen. Inzwischen tröste ich mich dann mit dem Gedanken, dass mein symbolischer Rucksack immer schöner wird: ein Rucksack, gefüllt mit meinen Erfahrungen, wertvollen Begegnungen, Momentaufnahmen und bewegenden Menschen. Diesen Rucksack setzt man nie ab, sondern kann ihn immer weitertragen und auch im Alltag durch das Beibehalten von Neugier anreichern.
Nach zwölf unglaublichen Monaten, die bei mir immer noch eine Bandbreite an Gefühlen hervorrufen, packe ich wieder meinen Rucksack, diesmal aber reise ich nach Hause und breche nicht auf, um etwas Neues zu sehen. Ich werde schwermütig, der Abschied fällt mir schwer und ich realisiere mehr und mehr, dass dieses Abenteuer beendet ist. In diesem Moment zumindest lasse ich Kinder zurück, die ich so sehr ins Herz geschlossen habe und mit denen ich allerlei erlebt habe, Erfahrungen, die Freiheit und mein peruanisches Ich, das nach langem Eingewöhnen angekommen ist, viel Energie spürte und dazugehörte.
Nun denke ich anders darüber: Ich habe eine wunderbare Heimat gefunden, die mich prägt und deren Menschen schon danach fragen, wann ich wiederkomme. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Mein Reisegefährte – der blaue Tatonka Yukon – steht jetzt in meiner Studentenbude und jeden Tag erinnert er mich an meine Zeit in Peru und regt mich zum Träumen an, an welche wunderbaren Orte ich ihn als nächstes tragen werde …