Als erster Europäer ist Dirk Rohrbach Nordamerikas längste Flüsse von der Quelle bis zur Mündung gepaddelt. Aus den Rocky Mountains durch die Great Plains und den Mittleren Westen bis in den tiefen Süden zum Golf von Mexiko. 6000 Kilometer auf dem Missouri und Mississippi. Die erste Etappe zur Quelle des Missouri legte er mit Schneeschuhen und seinem ‘Yukon’ von Tatonka zurück.
Bei jedem Schritt knirscht es sulzig unter den Schuhen. Der Schnee ist jetzt im Juni nass und feucht, aber immer noch meterdick. Rekordwinter in den Rockys. Ich laufe zum ersten Mal auf Schneeschuhen, von einem kurzen Test am oberbayerischen Sudelfeld im März mal abgesehen. Es sind keine handgeflochtenen aus Birkenholz und Tierhautstreifen. Meine Trekkingboots stecken in olivgrünen Plastiktellern, festgezurrt mit Kunstoffgurten. Nicht romantisch aber praktisch. Etwas unbeholfen stapfe ich in mein Abenteuer. Es ist der 3. Juni, Sonntag. Grell strahlt die Sonne vom fast wolkenfreien Himmel. Ich trage ein T-Shirt und meinen Yukon-Trekkingrucksack mit dem Nötigsten für heute, die Nacht und morgen. Zelt, Schlafsack, Isomatte, Jacke, Wasser, Snacks. Noch bin ich in Idaho, aber schon in einer Stunde werde ich in Montana sein, wenn’s gut läuft, und ich mich nicht verlaufe.
Keine 100 Kilometer Luftlinie von hier Richtung Osten grasen die Büffel im Yellowstone Nationalparks zwischen wasserspeienden Geysiren. Die Region zwischen Montana, Idaho und Wyoming offenbart einige der schönsten und spektakulärsten Landschaften der Rocky Mountains. Perfekter hätte ich mir die Bedingungen für den Start nicht wünschen können. Am Sawtell Peak, einem Dreitausender in den Centennial Mountains der Rockys, führt ein Trail durch die Berge.
Durch den Altschnee vor mir ziehen sich immer wieder Spuren von Schneemobilen. Über den Hang neben mir tollt ein Hund. Er war zusammen mit Frauchen auf ihren Tourenski vom selben Trailhead gestartet wie ich. Über einen breiten Kamm laufe ich in einen Taleinschnitt und mir wird klar, ab jetzt geht es immer bergab, bis zum Golf von Mexiko, mehr als 2500 Meter tiefer gelegen als die Quelle. Mit meinen Trekkingstöcken suche ich beim Abstieg zusätzlichen Halt im weichen Schnee, rutsche trotzdem mehr als ich gehe und komme gut voran. Bald piept das GPS, um mir die Ankunft am Zielort zu signalisieren. Noch aber stehe ich mitten im Wald, zwischen Fichten.
Aus dem letzten Sommer, als ich schon mal ohne Schnee zur Quelle gelaufen war, erinnere ich mich aber, dass das Kennzeichen eine riesige tote Fichte am Rand einer freien Senke ist. Also stapfe ich weiter und erreiche nur Minuten später vertrautes Terrain. Je näher ich der toten Fichte komme, desto lauter wird aber das Rauschen des Wassers, auch wenn ich es nicht sehen kann. Ich setze den Rucksack ab, ziehe die Schneeschuhe aus und folge dem Rauschen. Bis ich einbreche.
Kalt und süß – der erste Schluck Missouri-Wasser
Ruckzuck verschwindet mein rechtes Bein bis zur Hälfte im Schnee. Zum Glück halten die Gamaschen und Gore-Membran vom Trekkingstiefel. Ich ziehe den Fuß aus dem Loch, jetzt kann ich das reißende Wasser auch sehen. Ich stecke die Hand durch den Schnee und nehme einen kühlen Schluck. Weich und süß schmeckt das Wasser. Ich setze mich für einen Moment auf den Felsen daneben und atme tief ein.
Jedes Schneekristall in diesem Tal wird irgendwann zu einem Wassertropfen schmelzen, der von hier aus seinen langen Weg zum Golf von Mexiko nimmt. Die Tropfen speisen zuerst den Hell Roaring Creek, der strömt unten im Tal in den Red Rock Creek, der wird zum Red Rock River und ergießt sich ins Clark Canyon Reservoir. Aus dem entspringt der Beaverhead River, der sich mit dem Big Hole River zum Jefferson River vereint, bevor der bei Three Forks gemeinsam mit dem Madison und dem Gallatin River den Missouri formt.
Das alles in Montana, über eine Strecke von nicht mal 500 Kilometern. Meine erste Etappe. Die werde ich erst morgen angehen. Denn die Nacht will ich hier oben direkt neben der Quelle verbringen. Mit meinen Schneeschuhen stampfe ich eine kleine Fläche fürs Zelt flach. Die Sonne zieht sich bald hinter die Bergkämme zurück, aber der Himmel bleibt zunächst noch stahlblau und klar. Zum Dinner gibt es einen ollen Käsebagel und Gatorade. Um kurz vor 21 Uhr wird langsam dunkel und zapfig kalt. Vielleicht friert es heute Nacht sogar noch mal. Die ersten Sterne funkeln am jetzt tiefblauen Himmel. Ich krieche in den Schlafsack, ziehe den Reißverschluss ganz nach oben und bin gespannt auf morgen.
Wasser aus der Hölle versperrt den Weg
Hell Roaring Creek, was für ein Name. Für knapp 20 Kilometer stürzt er sich durch die Berge vor mir zu Tal, nicht höllisch tosend, aber doch deutlich hörbar rauschend. Dann öffnen sich die Schluchten zu einer weiten Hochebene – dem Centennial Valley. Ein schnelles Frühstück, Kirschschnitte aus der Industriebäckerei und Quellwasser, dann baue ich das Zelt ab, mache ein paar letzte Fotos und schnalle die Schneeschuhe an.
Bleib möglichst weit oben, hatten mir andere Wanderer noch empfohlen. Wegen des unwegsamen Geländes und der dicht stehenden Bäume weiter unten. Auch auf dem Satellitenbild sah es so aus, als ob ich mich zunächst rechter Hand an den Bergflanken von Mount Jefferson und Mount Nemesis orientieren könnte, um erst nach Nordwesten und dann um den zweiten Berg nach Norden ins Tal zu laufen. Irgendwann würde sich der hier noch offene Taleinschnitt zunehmend zum unpassierbaren Canyon verengen. Also steige ich mit den Schneeschuhen schon bald nach meinem Aufbruch bergauf statt runter zum Creek.
Hin und wieder erhasche ich einen Blick aufs Wasser, das jetzt für einen kurzen Abschnitt kristallklar über Steine und Felsen sprudelt, ehe es wieder in einem Schneetunnel verschwindet. Nach einer guten Stunde muss ich die Schneeschuhe abschnallen, die Schneedecke ist zu löchrig geworden. Wieder ein herrlicher Sommertag, mit sicher 20, 25 Grad und schier endloser Fernsicht auf andere schneebedeckte Bergrücken und zunehmend braungrüne Hänge und Täler. Der Hell Roaring Creek zieht jetzt in engen Kurven durch eine weite Ebene unter mir. Dort scheint das Vorankommen verlockend einfach, ich hingegen kraxle weiter über Felsen und Sturzbäche, komme nur mühsam voran. Irgendwann entdecke ich einen ausgetreten Pfad durch eine Lichtung. Ein kleiner, rechteckiger Holzmarker, der in eine Fichte geschraubt ist, bestätigt meine Vermutung: C D.
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Ich beschließe dem Continental Divide Trail für eine Weile zu folgen, schließlich führt der ja laut GPS auch aus dem Canyon und ins Tal. Was für ein Unterschied! Kein zähes Kraxeln mehr, geradezu leichtfüßig tänzle ich nun durch die inzwischen schneefreie Landschaft, bilde ich mir ein. Von außen betrachtet mögen meine Schritte immer noch ziemlich grobschlächtig aussehen. Bald aber zweifle ich an meiner Entscheidung. Mit jedem Schritt führt der Trail rasanter zu Tal, zum Creek. Und nur ein paar Minuten später stehe ich ratlos vor fünf, zehn Meter breitem, dieses Mal wirklich höllisch-tosendem Wasser. Der Hell Roaring Creek ist durch das Schmelzwasser zu einer unüberwindbaren Hürde angeschwollen. Wo im Hochsommer sicher eine leicht passierbare Furt den Trail fortsetzt, würden mich die gewaltigen, eiskalten Wassermassen jetzt mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit mit sich reißen und mein Abenteuer mit genauso ziemlich großer Wahrscheinlichkeit tragisch enden lassen.
“Hallo Bär, ich bin’s nur, keine Sorge!”
Ich kämpfe mich durchs Gestrüpp am Ufer, kann aber einfach keine sichere Stelle zum Passieren ausmachen. Enttäuscht drehe ich nach ein paar Minuten um, gehe den Trail ein Stück weit zurück und schlage mich dann geradewegs den Berghang hinauf. Die Steigung wird rasch immer krasser. Ich laufe im Zickzack, muss aber trotzdem schnell die Hände zu Hilfe nehmen. Auf allen Vieren suche ich nach einer Route, aber je höher ich komme, desto unwegsamer und steiler wird es. Ich muss an die Golden Stairs auf dem Chilkoot Trail in Alaska denken, die erste Etappe meines Yukon-Abenteuers . Dort hatten sich die Goldsucher Ende des 19. Jahrhundert wie die Ameisen Richtung Kanada gekämpft. 40, 45 Grad Gefälle sollen sie haben. Auch da habe ich mich damals auf allen Vieren übers Geröll geschleppt. Die Steine dort boten aber zumindest einigermaßen Halt, wenn auch wackeligen. Hier scheint es mir nicht minder steil, im Gegenteil, und auf dem moosigen Untergrund rutsche ich immer wieder aus. Dazu kommen die Bären, schwarze und braune. Sämtliche Vertreter beider Arten in den Rocky Mountains sind bei der Hitze der letzten Tage bestimmt aus der Winterruhe erwacht und nun auf der Suche nach Nahrung. So haben es zumindest die Ranger, mit denen ich im Vorfeld gesprochen habe, angedeutet. Zum Schutz habe ich eine Dose Bärenspray am Gürtel. Aber würde ich die auch im Ernstfall schnell genug aus dem Halfter kriegen ? “Hello Brother Bear, it’s just me, no harm !”, sage ich zur Sicherheit laut und in kurzen, regelmäßigen Abständen vor mich hin, in der Hoffnung, die Bären hier verstehen überhaupt Englisch mit deutschem Akzent und sind nicht schwerhörig. Endlos kommt mir der Aufstieg vor. Statt nach Norden Richtung Centennial Valley zu laufen, stolpere ich immer weiter in die Höhe. Erreiche ich eine Kante, offenbart sich meist daneben ein tiefer, unüberwindbarer Canyon. Also weiter aufwärts.
Der letzte Schluck Wasser – und noch immer kein Tal in Sicht
Eigentlich sollte die Strecke von meinem Camp an der Quelle bis ins Tal nicht länger als 15, 20 Kilometer sein. Ein Fußgänger schafft das in normalem Gelände locker in vier, fünf Stunden. Ich bin schon jetzt fast doppelt so lang unterwegs, kann aber das erlösende Tal noch immer nicht sehen. Ich pausiere für einen Moment, nehme einen letzten Schluck Wasser aus der Trinkflasche. Wenn es noch viel länger dauert, müsste ich hier an einem Bach nachfüllen.
Schwerfällig wuchte ich meinen Körper mit Rucksack aus dem Sitzen in die Aufrechte. Weiter geht’s. Schritt für Schritt, Meter um Meter. So erreiche ich einen Kamm, hinter dem plötzlich zum ersten Mal der Blick aufs Centennial Valley frei wird. Ich atme schwer. Das Tal wirkt weit und flach wie eine Tafel. Auf der anderen Seite erheben sich die sanften Hügel der Gravelly Mountains. Auch den Creek sehe ich jetzt wieder. Wie eine endlose Schlange windet er sich durch die baumlose Landschaft, unterbrochen nur vom schmalen, beigen Band der Straße, die eigentlich eine grobe Schotterpiste ist.
Knapp zwei Stunden später nähere ich mich dem Stacheldrahtzaun, der die Straße und das Tal vom Fuß der Berge trennt. Vieles hier ist Privatbesitz, vor allem Viehweide. Zwölf Stunden sind seit meinem Aufbruch von der Quelle am Morgen vergangen. Über eine Furche am Berg bin ich zu Tal gestiegen, torkle jetzt durch weiches Gras zwischen den Armen des Hell Roaring Creek, der sich hier in der Ebene breit verzweigt. Völlig fertig erreiche ich den Zaun.
Erst jetzt bemerke ich wieder die Mücken. Zu Hunderten umschwirren sie mich. Auch am Berg nervten sie schon gewaltig. Je weiter ich abgestiegen bin, desto häufiger musste ich das Repellent nachsprühen. Kleiner Vorgeschmack auf den weiteren Verlauf der Reise, dann im Kajak.