Sobald ich wandern und Spanien im gleichen Satz verwende, denken alle an den Jakobsweg. Fast alle Pilger beginnen ihren Weg an der französischen Grenze – in den Pyrenäen – und steigen dennoch gleich am ersten Tag ab aus diesem Bergparadies. Meine Onlinerecherche nach “der schönsten Teilstrecke” ist derart ergiebig, dass meine geplante Tour von vier Tagen auf 14 wächst: Vom Seenplateau Aiguestortes gen Westen bis ins Tal von Ordesa.

Der GR-11

Verglichen mit den Alpen sind die Pyrenäen selbst in Europa kaum bekannt – sogar bei der Durchfahrt mit Auto oder Zug nimmt man sie kaum wahr. Die Bergkette entlang der spanisch-französischen Grenze ist oft gerade mal 50 km breit –dafür aber 430 km lang, mit mehr als 200 Bergen über 3.000m und einer geologischen Vorgeschichte, die ihresgleichen sucht.

Obgleich auf den spanischen Jakobswegen Menschen aus aller Welt eintrudeln, sind die Naturkulissen der Pyrenäen ungleich spektakulärer – und bieten durch ihre Strapazen, Höhen und unfassbaren Ausblicke eine ähnlich spirituelle und mitunter wesentlich schönere Naturkulisse.

Entlang der gesamten Pyrenäen – vom französischen Mittelmeer bis zum kantabrischen Atlantik – schlängelt sich über 800 km mit rot-weißen Markierungen die “gran ruta” GR-11: ein spanischer Fernwanderweg, der es in sich hat.

Der GR-11 führt auch durch den katalanischen Nationalpark Nationalpark Aigüestortes i Estany de Sant Maurici.
Der GR-11 führt auch durch den katalanischen Nationalpark Nationalpark Aigüestortes i Estany de Sant Maurici.
Aufgerissener Canyon im Ordesa Tal.
Aufgerissener Canyon im Ordesa Tal.

Ein Königreich aus Wolken

Es ist Hochsommer: zumindest um Schnee und Eis muss ich mir keine Gedanken zu machen. Aber Berge und Wetter sind immer so eine ganz besonders volatile Kombination. Meistens ist es kochend heiß: Der Himmel blau, mein T-Shirt und Socken getränkt im eigenen Schweiß, das Salz reibt mir in die Haut. Aber fast jeden Tag formen sich auch Wolken – wie ein Bildschirmschoner der entlang des Bergpanoramas vorbeizieht. Aber es ist nicht dieser dichte gräuliche Nebel, den ich aus Deutschland kenne. Hier kommen die Wolken in allen Formen, Größen und Höhen – die Risikokandidaten sind vor allem diese dicken, aufgepufften Wolken (Cumulus), besonders wenn sie schnell wachsen und sich auftürmen, und sich dann noch grau anfärben, dann geht es bald los mit dem Regen: und zwar so richtig! Gewitter, Blitze und sogar Hagel unterbrechen sporadisch die infernalische Hitze. Vielleicht habe ich den Himmel einfach nie so genau beobachtet wie hier, aber für mich ist dieser Weg neben der Wander- auch eine Wetterschule.

Wolken, die in die Höhe wachsen und das nächste Gewitter ankündigen.

Ambitionierte Etappen

Der Weg ist strukturiert in Etappen, die recht sportlich sind: Rund 15 – 25 km am Tag klingen vorab eigentlich machbar, im Vergleich zum Jakobsweg mitunter wenig. Aber es sind schließlich Berge und kein Flachland: pro Tag geht es gerne 800 Meter runter und wieder hoch – im Schnitt!

Auch ist das Terrain sehr vielseitig. Das ist zwar abwechslungsreich und aufregend, kann aber bedeuten, dass man mal stundenlang über Felsbrocken kraxelt, über wälderne Baumwurzeln stolpert oder versucht einen Abhang voller Geröll abzusteigen ohne sich ein Bein zu brechen. Doch am Ende einer jeden Etappe wartet freilich ein schönes Refugio: eine Herberge mit Bett, Dusche und einer warmen Mahlzeit.

Daher haben die meisten Wanderer, die ich sehe, auch nur kleine Tagesrucksäcke dabei. Aber was ist, wenn man es mal nicht bis zum Refugio schafft? Oder es am Ende voll ist? Für den Fall, dass es mal nicht klappt, kann ich mich auch selbst versorgen – ich wandere mit Zelt, Schlafsack und Matratze, Küche und eigenem Essen – alles dabei.

Ich packe meinen Rucksack…aus

Mein Rucksack, der Tatonka Yukon 60 Liter, ist dafür eigentlich gut gewählt: Robust, übersichtlich mit viel Platz. Das Gewicht wird schön verteilt, das kann ich über die Riemen gezielt einstellen. Es gibt genug Befestigungsmöglichkeiten außen und sogar eine Erweiterung um 10 Liter nach oben. Doch trotz aller Planung scheitere ich schnell an der Realität. Nach zwei Stunden ist klar, dass ich wohl einiges falsch gemacht habe beim Packen.

Der Yukon ist bis zur 70-Liter Marke voll, mit 19 kg ist schon das Anheben olympisch, die Bergaufstiege sind Strapazen und die Kletterpartien gefährlich.

Tatonka Rucksack mit Zelt und Schlafsack. Im Hintergrund ein See und die Berge der Pyrenäen.
Bo mit seinem schweren Rucksack.
Das ist kein Wandern, das ist Schleppen!

Jede Ausrede taugt, um den Rucksack einmal abzusetzen: Hunger, Foto, Pipi… über 3 Tage schwitze ich mir die Seele aus dem Leib. Dann ist Schluss. Hier treffe ich Carlos– er hat 10 kg dabei…und schaut mich mitleidig an, wie einen 3-beinigen Hund. Ich leere den Rucksack und jeder Gegenstand wird geprüft: 3 Paar Strümpfe, 3 Unterhosen, nur eine Jacke – die Küche muss weg – und du kannst keine 5 kg an Essen mitschleppen! Es gibt doch alle 3 Tage nen Supermarkt. Sogar mein Handtuch zertrenne ich mit seiner Nagelschere in zwei… ein Drittel meiner Sachen vermache ich einer jungen Baskin…und spüre sofort die Erleichterung!

Schmetterlinge auf Bos Rucksack.
Die neue Leichtigkeit

Grazil wie eine Ziege erklimme ich den nächsten Berg, und finde einen maritim anmutenden See. Oben wird es düster und nebelig: Eine gruselige Atmosphäre umgibt mich, und ein kalter Wind spukt über die Berge. Am nächsten Morgen sieht es schon ganz anders aus: Der Himmel in malerischem blau und als die Sonne ins Wasser strahlt, leuchtet alles transparent wie das Mittelmeer. Was für ein unfassbarer Ort für ein tolles Frühstück – ganz ruhig und ganz für mich allein.

Schweiß, Bad

So eine Tagesetappe hat es ganz schön in sich: 5-7 Stunden pure Wanderzeit, plus Pausen. Außer Wandern, Essen und schlafen komme ich eigentlich zu nichts.

Manchmal – meist inmitten eines scheinbar ewigen Aufstiegs – frage ich mich, warum ich mir das antue. Ist diese repetitive sinnlose Tortur nicht die Definition von Sisyphos-Arbeit?

Fernwanderung G 11 Spanien - Karger Berg in den Pyrenäen.
Wozu mache ich das eigentlich?

Jein. In der Tat muss ich jedes Stück, dass ich absteige, auch wieder hoch – ein flacher Weg wäre freilich einfacher. Aber die harte Arbeit bleibt ja nicht ohne Lohn: Mit der Höhe ändert sich alles: Temperaturen, Gesteine, Vegetation und Tiere. Jeden Tag darf ich rund drei Welten entdecken. Von großen grünen Grasflächen über Laubwälder, zu dichten Nadelbäumen, sukkulenten Pflanzen bis in kalte Steinlandschaften und sogar jetzt im Hochsommer, den einen oder anderen Gipfel mit Schnee.

Fernwanderung G11 Spanien - Höllenpass in den Pyrenäen mit einzelnen Schneefeldern.

Was sie alle verbindet ist das Element Wasser. Unfassbare Wolkenformationen formen sich live in HD an den Gipfeln, und fliegen über mich hinweg – bis sie in schweren Gewittern mit Donner, Blitzen und Hagel auf mich einprasseln. Der Regen sammelt sich in den Bergen wie in einem vertikalen Wassertank und quillt danach – im eigenen Tempo – aus Felsspalten hinaus, Bäche schlängeln sich die Hänge hinab.

Wolken form sich abends entlang der Berge und fließen ins Tal.
Wolken formen sich abends entlang der Berge und fließen ins Tal.
Wolkenschleier und Sonne.
Manchmal sehen sie auch einfach nur cool aus – wie ein See im Himmel.

So habe ich eigentlich immer eine Quelle mit frischen Trinkwasser und – meine magischen Oasen: ein Panorama wunderschöner Bergseen: zu aragonesischem spanisch ibones!

Mit ihrem sauberen durchsichtigen Wasser sind sie ungeheuer fotogen, gerne reflektieren sie die dahinterliegenden Berge und spiegeln die Wolken. Aber neben ihrem ästhetischen Wert bieten sie vor allem ein prächtiges Badeerlebnis:

Unbeschreiblich erfrischend dieses Gefühl, mir nach einem 2-stündigen Aufstieg die verschwitzten Kleider vom Leib zu reißen und in den nächsten See zu springen. Die Wassertemperatur variiert dabei von perfekt erfrischend bis sehr kalt. Die schönste Taktik ist es, einfach reinzuspringen und loszukraulen – so spendet der ibón die pure Freude, bis ich nach ca. 20 Sekunden merke, dass ich jetzt schleunigst umkehren sollte, um nicht zu erfrieren. In manchen ibones halte ich sogar ein paar Minuten aus.

Bo beim Baden in einem kleinen Bergsee - ibon genannt.
Immer bin ich ungestört: Die Berge, der ibón und das nackte ich.

Abgesehen von einigen Hotspots wie dem Ordesa Tal ist der GR-11 nämlich auch nicht so überlaufen. Nichts mit lauten deutschen Wortfetzen, Schlange stehen am Flaschenhals, Familien überholen, Verpackungsresten finden: Die meiste Zeit habe ich die Berge für mich allein, treffe mitunter für einen halben Tag keine Menschenseele.

Estany de Sant Maurici - Größerer Bergsee in den Pyrenäen.

Wobei hier auch noch Murmeltiere sind: Sie sehen aus wie dicke fette Hamster und schreien wie Vögel. Sobald sie mich erblicken, rennen sie schnurstracks in ihre selbstgebuddelten Löcher – ich hoffe es ist nicht mein Geruch, der sie vertreibt.

Auch die Bäche und Wasserfälle helfen mir: Flasche gefüllt, Socken gespült und das T-Shirt für die nächsten 30 Minuten kühl und feucht. Ohne meine treuen ibones hätte ich diesen Weg nicht durchgestanden.

Wasserfall als Naturdusche.
Meine Naturdusche.

Sternenhimmel

Auch die Nächte bieten exzellentes Entertainment: Manchmal ferne oder nahe Gewitter, Monde oder klare Sternenhimmel. Ein perfekter Ort um die Konstellationen zu erforschen – fernab den Lichtern der Stadt. Hierfür gibt es inzwischen ziemlich gute Apps, die beim erkennen helfen. Einfach das Handy draufhalten und zack wird Konstellation mit Name angezeigt. Besonders prominent ragt hier der “große Wagen” raus, auch der große Bär (“ursa major”) genannt. Schön und gut. Leicht zu erkennen. Aber wo seht Ihr denn in diesen 7 funkelnden Punkten einen Wagen oder Bären? Von einer Französin erfahre ich, dass sie die Konstellation “la grande casserole” nennen. Und in der Tat: Die Form einer umgedrehten Bratpfanne ist darin viel klarer auszumachen. Aber vielleicht liegt es daran, dass wir in den Sternen ja vor allem das sehen, was wir von der Erde her kennen – und zuhause in Berlin sehe ich mitunter mehr Bratpfannen als Bären und Streitwagen.

Mond im Nachthimmel in den Pyrenäen.

Balkon aufs Ordesa-Tal

Kurz vor dem berühmten Ordesa Tal ahne ich ja schon, dass da etwas Besonderes, etwas Schönes kommen soll. Aber als ich dann plötzlich auf den “Balkon” marschiere, haut es mich schon aus den Socken. “Der Balkon”, das ist eine große flache Grasfläche am Rande eines Tals. Auf dessen anderer Seite leuchtet ein unfassbares Panorama: All die Berühmtheiten schauen mich gleichzeitig an, so dass ich mit dem Fotografieren kaum nachkomme. Der verlorene Berg (Monte Perdido: 3.355 m), der Zylinder (Cilindro de Marboré: 3.328 m) and Soum de Ramond (3.263 m), daneben die cascadas cola de caballo (die Pferdeschwanz-Wasserfälle). Dieses plötzliche Crescendo der Giganten lässt mich erstarren in Fassungslosigkeit. Ich setzte mich auf die Wiese und starre sie an, schieße Hunderte Fotos, als ob diese Vista nicht real wäre und ich dieses Naturwunder unbedingt für die Nachwelt dokumentieren müsste.

Tatonka Rucksack an einer Wegmarkierung des G11.
Monte Perdido, el cilindro und die anderen Stars der Pyrenäen.
Imposanter Ausblick vom

Doch diese wunderschöne Bergwand ist nicht nur eine Sehenswürdigkeit am Rande des Weges. Sie steht buchstäblich im Weg und muss bezwungen werden. Doch bevor es überhaupt losgeht, muss ich zu ihrem Fuße hinabsteigen, ins Tal. Es erwartet mich die härteste Etappe des ganzen Weges: 1.700 Meter hoch, 800 Meter runter – an einem Tag!

Aufstieg

Es beginnt früh um 6. Wir haben Glück und es ist heute nicht so heiß. Bei 40 Grad wäre dies unmöglich. Die Felswand ist fast vertikal und so schlängelt sich der Weg immer wieder rechts und links an ihr entlang. Es ist fast wie eine Treppe, eine Treppe von 4 Stunden 🙂 dazwischen immer wieder der wunderschöne Ausblick nach unten und gegenüber. Bald sehe ich die Raubvögel fliegen einige schwirren nun schon unter mir umher während sie die Thermik des sich wärmenden Morgens aufgreifen, um nach oben zu steigen. Das täte ich auch gern 🙂

Raubvögel nutzen die Thermik als Aufzug.
Raubvögel nutzen die Thermik als Aufzug.
Fernwanderung G11 Spanien - Wanderer beim Abstieg in den Pyrenäen.
Die letzte Partie ist keine Treppe mehr, sondern ein Kampf mit Geröll.

Doch oben angekommen, erwartet mich die doppelte Vista. Auch auf der anderen Seite der Gipfel warten neue Welten: Die Gesteinsformen wirken außerirdisch: In die Höhe getrieben durch das Rammen der iberischen Halbinsel in die europäische Kontinentalplatte, aufgerissen durch Gletscherbildung. Diese Kunstwerke waren jeden Meter Aufstieg, jede Schweißperle wert.

Berg mit besonderer Form in den Pyrenäen.
In sich verwrungene Steinsformationen.

Abgekürzt

Zwei Tage später am Spa de Panticosa erinnere ich mich an Carlos Geheimtipp: Ich folge einer Pipeline durch eigens hierfür angelegte Tunnel und kann mein Glück kaum fassen: Ich spare 600 Meter ab und Wiederaufstieg.

Pipeline am G11 in den Pyrenäen.
Folge der Pipeline und spare 1,200 Höhenmeter 🙂

Die letzte Hürde dieser Partie ist der Collado del infierno (Höllenpass) mit 2.721m. In der Nacht vor dem Aufstieg zieht ein Sturm auf, doch statt des erwarteten Regens beginnt es plötzlich zu hageln: in Murmelgroßen, schmerzhaften Eisklumpen, denen ich knapp entkommen kann.

Der Pass an sich ist nicht ohne – ich muss haufenweise Geröll raufkraxeln und finde – sogar jetzt im Juli – Schnee. Im Winter ist ohne Spezialausrüstung gar nicht dran zu denken. Aber als auch dieser Aufstieg vollbracht ist, erfüllt mich ein tiefer innerer Stolz. Das Wissen um diese Tortur und seine Belohnung, veranlassen mich allen entgegenkommenden Tagestouristen mit einem verschmitzten Lächeln einen wunderschönen Aufstieg zu wünschen.

Und raus

Allen Strapazen zum trotz liebäugele ich mit dem Vorschlag, den GR-11 einfach weiter zu gehen, bis nach San Sebastian, bis zum Beginn des nördlichen Jakobsweges (den ich ja auch noch vor mir habe). Aber mein Körper ist erschöpft, mein Ziel erreicht, und ich habe mehr wunderschöne Eindrücke gesammelt (und Fotos geschossen!), als ich mir erträumt hatte. Nach 2 Wochen in den Bergen steige in Salen de Gallego aus und nehme den Bus nach Pamplona. Welch tolle Erfindung, so ein Bus!

Einer der interessanten Effekte des Fernwanderns ist die Rekalibrierung der Sinne. All diese Dinge des Alltags, die ich gewöhnlich kaum wahrnehme, weiß ich erst nach einer Wanderung wieder zu schätzen: Ein eigenes Zimmer mit bequemem Bett ohne Schnarchnasen, keine Fußschmerzen zu haben, die Freiheit mich auch mal ohne Rucksack zu bewegen, saubere Kleider – und nicht jeden Tag dieselben, köstliche spanische Pinchos und kaltes Bier, frischen Salat, Kontakt zu meinen Freunden und ein Buch, das mehr als 300 Gramm wiegt 🙂

Die Stadtmauer von Pamplona.
Die Stadtmauer von Pamplona.
Die köstlichen Pinchos von Pamplona
Die köstlichen Pinchos von Pamplona.