Jeden Tag starrt er mich aus der Ferne an, dieser verdammte Krater – mit Verachtung für meine Tatenlosigkeit. Als wolle er mir sagen, meine Abenteuer- und Klettertage lägen hinter mir. Mit 4.566 Metern ist der Mount Meru immerhin der fünfthöchste Berg Afrikas. Ich folge seinem Ruf!

Crashkurs im Suzuki

Der Aufstieg beginnt im Arusha-Nationalpark im Norden Tansanias. Mein Kumpel Iddy fährt uns in einem kleinen Suzuki zum Startpunkt. Auf dieser Jungfernfahrt schwingt bei dem frisch reparierten Fahrzeug spontan die Kofferraumtür auf: Mein schwedischer Mitstreiter purzelt fast rückwärts aus dem Fahrzeug, die Kofferraumtür verpasst nur knapp einen vorbeifahrenden Motorradfahrer. Mein Schock wird nur dadurch übertrumpft, dass letzterer achselzuckend weiterfährt … es scheint, im tansanischen Verkehr hat man alles schon gesehen. Gegen fünf Dollar hämmern zwei nahestehende Mechaniker etwas auf der Türschließe herum – Problem vertagt und weiter geht’s.

Wir fahren durch das Tor entlang einer Gravelroad den Park hoch, vorbei an einer Reihe von Giraffen, deren Kiefer, sich seitlich verschiebend, kleine Akazienblätter zermahlen. Ein massiver Elefantenbulle zupft mit seinem Rüssel Grasbüschel aus dem Boden und wirft sie in seinen Mund. Das ist die “kleine Serengeti” – eine sumpfige Grasfläche am untersten Teil des Parks.

Vom See zum Tor des Zauberwalds

Unsere Dreitagestour beginnt am Momela-See, einem stillen Gewässer mit ein paar Nilpferden und hunderten von Flamingos. Wir folgen dem Park Ranger, der uns im schlimmsten Fall vor den grasenden Büffeln schützen soll. Dazu hat er eine hölzerne Flinte dabei, deren Zustand aber eher an das Wrack eines Piratenschiffs erinnert.

Bereits nach zwei Stunden ändert sich die Landschaft: Es wird dichter und waldiger. 30 Grad – man schwitzt. Dornbüsche und Brennnesseln pflastern unseren Pfad. Wir hören Vögel zwitschern, doch kommen die Rufe aus dichtem Gestrüpp, und die Sänger sind versteckt.

Anfangs ist die Landschaft offen und warm.
Anfangs ist die Landschaft offen und warm.

Am Ende des Pfades sehen wir einen spektakulären Baum, geformt wie ein Tor. Auf den zweiten Blick sind es zwei Bäume und auf den dritten wird das Bild komplexer: Es ist eine Würgefeige (“Strangler Fig”) – ein parasitärer Feigenbaum. Sobald ein Feigensamen in Vogel- oder Affenkot auf einem anderen Baum deponiert wird, entwickelt er schnell ein Eigenleben, wächst zunächst von Regenwasser und toten Blättern, bis er stark genug ist, sich mit eigenen Wurzeln entlang dem Stamm seines Wirtes gen Boden zu tasten. In der nächsten Stufe wachsen große Blätter. Nach und nach beginnt die Feige, den wesentlich größeren Wirtsbaum zu umschlingen und sich zunehmend dessen Rohstoffe aus Wasser, Nährstoffen und Sonnenlicht zu sichern. Nach ein paar Jahrzehnten ist die Feige so groß und hungrig, dass der Wirt abstirbt und – wie hier – sein Abbild nur noch als Schablone innerhalb des Feigenbaums verbleibt. Welt der Wunder!

Wir schreiten durch ein lebendes Tor aus zwei verflochtenen Würgefeigen.
Wir schreiten durch ein lebendes Tor aus zwei verflochtenen Würgefeigen.

Naturgemälde

Wir marschieren hindurch und gelangen in den verzauberten Wald, geziert von großen mächtigen Bäumen: abyssinische Diospyros und wilde Olivenbäume. Es geht bergauf. Aus den Baumkronen hören wir ein merkwürdiges Röhren und finden nach sehr genauem Hinsehen einen märchenhaft farbenfrohen Vogel: einen Turaco.

Ich erinnere mich an Alexander von Humboldt. Der weltberühmte Entdecker und Naturwissenschaftler bestieg einst den Chimbarazo-Vulkan in Ecuador. Beim Aufstieg bemerkte er, wie sich mit steigender Höhe die Vegetation ändert, und fand die Ursache in der Anpassung der Pflanzen an unterschiedliche Temperatur, Luftdruck und Feuchtigkeit. In seinem berühmten “Naturgemälde” skizzierte er diese Höhenschichten mit ihrer gängigen Vegetation.

Ein Epiphyt wächst unverhohlen auf einem anderen Baum.
Ein Epiphyt wächst unverhohlen auf einem anderen Baum.

Im zügigen Aufstieg sehen wir genau dasselbe Phänomen: Alle paar Stunden treten wir wie durch eine Pforte in eine neue Landschaft ein. Level geschafft.

Wir erreichen Miriakamba Hut auf 2.500 m.

Zwischen Trägern und Touris

Oben sitzt bereits eine große Mannschaft aus Köchen und Trägern. In alten Rucksäcken oder sogar in einfachen Sporttaschen, die sie den ganzen Weg auf ihrem Kopf balancieren, schleppen die wahren Helden des Berges mit über 20 Kilogramm pro Kopf alles Notwendige für reiche Mahlzeiten den Berg hoch. Die eintreffenden Gäste erwartet ein zauberhaftes 3-Gänge- Menü mit allem Drum und Dran.

Wir selbst haben es einfacher gewählt: Zwischen den tansanischen Master Chefs brühen wir uns ein bisschen kochendes Wasser und essen Nudeln mit Geschmackspulver, dazu einen Proteinriegel mit Schokogeschmack und Nüsse.

Obgleich die Träger das ganze Zeug mit bewundernswerter Ausdauer und Würde schleppen, bin ich heilfroh über meinen eigenen Rucksack. Das Tragesystem des Tatonka Yukon verteilt mein Tragegewicht so geschickt über den gesamten Körper, dass ich eins mit dem Rucksack werde. Kein Schmerz an Hals, Schultern oder Armen. Selbst nach dem ganzen Marsch.

Trekkingrucksack Tatonka Yukon.

Willkommen in den Bergen

Wir stehen früh auf und gelangen schlagartig in die nächste Vegetationsstufe: Bergwald. Es ist feuchter und kühler.

Die Bäume werden kleiner und dünner. Das Terrain geht nun stets bergauf, ein Zickzackweg versucht, den Höhengewinn knieverträglich zu machen. Die Bäume werden kleiner und dünner.

Über etliche Switchbacks machen wir unseren Weg auf Little Meru, einer kleinen Vorhut des uns noch bevorstehenden Berges.

Wir nächtigen am Sattel des Berges, in Saddle Hut, auf 4.500 Meter. Es gibt wieder Pasta, aber irgendwas haben wir falsch gemacht – ein beißender Geschmack unseres Brennstoffs Ethanol mischt sich in unser Tomatenaroma und nimmt auch den letzten Rest Genuss. Aber wir brauchen die Kalorien, spülen sie mit Tee runter und bereiten uns mental vor.

Der Marathon beginnt um eins

Um Mitternacht klingeln die Wecker. Es ist kalt. Der Aufstieg beginnt ab ein Uhr morgens – in völliger Dunkelheit. Außer unseren Kopflampen und den Sternen umgibt uns das Nichts.

Alle schweigen – ich höre nur schweres Atmen und Schotter, während wir immer weiter bergauf stapfen. Eine andere Gruppe hat lange vor uns begonnen, und wir sehen ihre kleinen Leuchten über uns auf der Bergwand.

Rhino Point. Weit über uns ragt die Bergspitze, scheint eigentlich nicht so fern, ist aber so steil, dass ein direkter Aufstieg undenkbar wäre. Wir beginnen die Wendeltreppe und steigen den runden Kraterrand hinauf. Dass wir den Gipfel dermaßen umschiffen und letztendlich rund 270° Grad dieses Kraterrandes hochgewandert sind, werden wir erst bei Tageslicht verstehen.

Die Felswand des Mount Meru später im Tageslicht.
Die Felswand des Mount Meru später im Tageslicht.

Eine Wendeltreppe aus Vulkan

Blicke nach links gehen steil in die Tiefe des Kraters, der Vulkanstein ist zu Sand gebröselt. Wer einmal vom Weg abkommt und in diesem feinen Geröll sitzt, kennt nur noch eine Richtung: abwärts.

Die Kälte nimmt einem jede Faulheit, länger als zwei Minuten Rast zu machen. Mit der Bewegung geht’s.

Nach zwei Stunden erreichen wir einen felsigen Pass. Hier sind Metallketten zum Festhangeln aufgespannt – links oder rechts runterfallen wär blöd. Das kalte Eisen beißt sich in die Hände. Lieber schnell als langsam rüber. Bald kommt der nächste Kettenweg zum Festhalten entlang einer Felswand.

Es geht immer weiter. Wir sind nicht erschöpft, aber irgendwie habe ich jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Wie weit sind wir gegangen, wie lange, wie weit ist es noch? Ich habe hierfür keinerlei Gefühl – aber vielleicht ist es auch gleich. Wir müssen und wollen ja ohnehin weiter. Macht es einen Unterschied?

Wir laufen und klettern durch ein Labyrinth – umschiffen Ecken und Kurven, kraxeln über Gestein und plötzlich stehen wir ganz oben: Socialist Peak (4562m) ist die steile Spitze dieses phänomenalen Vulkankraters.

Socialist Peak – die Spitze

Hinter der Felskante fällt es vertikal bergab. Die Sonne geht auf, und zwar genau über Mount Kilimanjaro, der uns bereits schneeverziert anblinzelt wie der nächste Endboss.

Das erste Tageslicht ragt bereits über den Horizont und wir erkennen den irren Weg hinter uns.
Das erste Tageslicht ragt bereits über den Horizont und wir erkennen den irren Weg hinter uns.
Frederik auf dem Mount Meru zum Sonnenaufgang.