Die beste Zeit, um in Norwegens Fjell zu wandern, ist von Juni bis September – danach sind viele Sommerbrücken abgebaut, und es kann plötzlicher Frosteinbruch mit Schneefall drohen. Aber weil Andreas die Herausforderung liebt (haha) und die Herbstferien in Niedersachen nicht früher zu haben sind, planen wir eine einwöchige Trekkingtour für Anfang Oktober.

Wir, das sind zwei – nun ja – doch schon etwas ältere Semester mit reichlich Outdoor-Erfahrung (und außerdem ausgewiesene Gear-Freaks ;-)) plus Andreas‘ 15-jähriger Sohn samt drei gleichaltrigen Freunden, denen der Vater mal zeigen will, wie das so geht mit dem Wandern in der Wildnis.

Nach einigen Telefonaten und E-Mails steht die Route: Wir werden uns am Flughafen in Oslo treffen, und anschließend mit der Bergenbahn nach Finse fahren. In fünf Tagesetappen wollen wir, eine Schleife durch die Hardangervidda ziehend, nach Geilo wandern und dort den Zug zurück nehmen.

Tourstart mit Hindernissen

Ich reise aus dem Süden Deutschlands an – ein Direktflug München-Oslo am Samstagmorgen. Die Boygroup wird bereits am Freitag mit dem Auto aus Norddeutschland starten und die Spätfähre Hirtshals–Larvik nutzen. Treffpunkt: Samstag früh, Oslo Flughafen. Die Zugfahrkarten für die Bergenbahn sind reserviert.

Am frühen Freitagabend – mein Rucksack steht gepackt in der Ecke – ein Anruf von Andreas. „Du, wir sind liegengeblieben. Reifenpanne. Wir verpassen die Fähre.“ Na super. Die nächste Fähre geht am Samstag Vormittag, Ankunft in Oslo am späten Nachmittag. Das heißt, wir müssen auf jeden Fall eine Nacht in Oslo verbringen, denn wir werden den letzten Zug Richtung Bergen verpassen. Ich organisiere mir also noch von zu Hause aus eine Unterkunft und kann dem Tag Sightseeing in Norwegens Hauptstadt durchaus auch Positives abgewinnen.

Blick von der anderen Uferseite auf das Rathaus Oslo.

Samstag Abend dann großes Hallo am Treffpunkt Aker Brygge in Oslo. Die Jungs erzählen eine lustige Story über die Autoreparatur in einer dänischen Kleinstadt und die improvisierte Übernachtung im Bus. In dieser Nacht werden sie auf dem Campingplatz in Oslo zelten.

Mit der Bergenbahn ins Abenteuer

Sonntag früh steigen wir dann am Osloer Hauptbahnhof in die Bergenbahn. „Ihre Zugtickets sind nicht gültig“, sagt uns der Schaffner bei der Fahrkartenkontrolle einige Stationen später. „Nein, wir haben ja auch für gestern gebucht.“ „Aber heute können Sie nicht mitfahren, alle Plätze sind belegt.“ Uns fällt die Kinnlade herunter. Zum Glück können wir unser Dilemma glaubhaft deutlich machen, der Schaffner lässt sich erweichen und verteilt uns auf die wenigen freien Plätze im voll besetzten Zug.

Die „alten Hasen“ können sich im Zug gleich an die meistgestellte Frage der „Rookies“ auf der Tour gewöhnen: „Hast Du Netz?“ Die Jungs schauen mehr auf ihre Handys als aus dem Fenster. So ist das mit den Digital Natives – Hauptsache NETZ. Die nächsten Tage werden zeigen – selbst auf der Hardangervidda ist die Netzabdeckung in Norwegen leider viel zu gut – aus dem erhofften „digital detox“ für die Jungs wird nichts.

Trotz wolkenverhangenen Himmels und Regen ist die Fahrt mit der Bergenbahn wirklich wunderschön – genau so, wie sie überall beschrieben wird. Die Zugstrecke führt von Oslo aus quer über die Hardangervidda an die Westküste und ist eine hervorragende Einstimmung auf die karge und unwegsame Hochebene, die wir in den nächsten Tagen zu Fuß erkunden wollen.

Haugastøl (988 m ü.NN) – los geht’s!

Apropos Tage – wir haben ja nur noch vier davon. Deshalb, und weil auf Höhe Finse (1220m) bereits Schnee liegt und Sturm angesagt ist, haben wir unseren ursprünglichen Plan geändert und werden versuchen, von der Bahnstation Haugastøl (988 m ü.NN) aus, auf die ursprünglich geplante Route zu gelangen. Um halb vier nachmittags verlassen wir den Bahnhof mit geschulterten Rucksäcken in Richtung Wildnis.


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Es ist wolkig, kalt und ein bisschen feucht. Also: Mützen aufgesetzt und Handschuhe angezogen. Wir haben beschlossen, bis zum Einbruch der Dunkelheit – noch etwa eine Stunde lang – zu laufen, dann wollen wir unsere Zelte aufschlagen. Mein Equipment inklusive einem der Zelte passt locker in den Prototypen des neuen 60-Liter-Modells des Tatonka Yukon, und ich wundere mich ein bisschen über die vollgepackten 75-Liter-Trumms (Tatonka Bisons) der anderen fünf. Dazu aber später mehr. Wir haben zwei Dreimannzelte dabei, ein Tatonka Polar 3 und ein ähnliches Zelt eines sehr bekannten schwedischen Herstellers ;-). Einer der Jungs – sie wollen sich abwechseln – wird jeweils bei uns Oldies schlafen. Verpflegungstechnisch haben wir uns auf Müsli, Fertignahrung, Nüsse, Milchpulver, Schokolade, Kaffeepulver und Teebeutel geeinigt.

Die Standardausrüstung und -kleidung für Outdoor-Unternehmungen dieser Art muss ich sicher nicht eigens erwähnen, aber dies vielleicht doch: Wir werden uns ganz „oldschool-mäßig“ mit Karte und Kompass im Gelände orientieren – auf GPS verzichten wir.

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Nach einer munteren kleinen Wanderung zum Start schlagen wir die Zelte auf, und es geht ans Kochen. Auch die Jungs sind dank diverser Zelturlaube in der Vergangenheit mit dem Zeltaufbau und dem Kochen im Freien vertraut.

Aufgebautes Tatonka-Zelt auf einem Hochplateau mit See im Hintergrund

Und da zeigt sich, wofür die überdimensionierten Rucksäcke benötigt wurden: Wir ergänzen die geplante Fertigmahlzeit um Eier, eine große Salami (insgesamt werden in den nächsten Tagen drei verzehrt werden) einen großen Brotlaib und Bergkäse. Als ich in Toms Rucksack nach dem Kochset suche, entdecke ich, neben einem völlig überdimensionierten „Gourmetpaket“, tatsächlich auch noch eine Flasche Rum! „Die hab‘ ich da aber nicht reingepackt“, beschwert sich Tom, und Andreas feixt. Zum Glück erweisen sich die fünf Buben auch in den nächsten Tagen als konditionsstark und schleppen ihre schweren Rucksäcke ohne Gemecker gutgelaunt durchs Gelände.

Wuthering Heights

Wir liegen schon in den Schlafsäcken, da frischt der schon vorher steife Wind zu einem ausgewachsenen Sturm auf. Uiuiui – so ein Zelt ist ja doch eine fragile Unterkunft! Wild wackeln die Zeltwände, und während Andreas draußen im Dunkeln mit Kopflampe herumspringt und die Abspannleinen überprüft und zusätzlich sichert, lehnen wir anderen uns in den Zelten mit dem Rücken gegen die Zeltstangen, um sie zu entlasten. Nach zwei Stunden ist der Spuk zum Glück vorbei, außer einer verbogenen Stange am „Schweden-Zelt“ gibt es keine Verluste.

Am nächsten Morgen geht es bei hervorragendem, sonnigem Wetter weiter. Die Wegmarken sind gut zu erkennen, wir haben keine Probleme, uns zu orientieren. Das Gelände ist nicht wirklich schwierig, große Höhenunterschiede sind nicht zu überwinden, hie und da müssen wir über Felsblöcke oder einen kleinen Bach balancieren und auch mal ein Geröllfeld queren. Mit dem schweren Rucksack bin ich, wie immer, froh, meine Wanderstöcke zum Ausbalancieren nutzen zu können. Andreas hat nicht nur seine eigenen vergessen, sondern auch, für die Jungs welche zu organisieren. Da stand die Verpflegung wohl mehr im Fokus – mir ist’s recht.

Trekkingtour Norwegen - Wassertümpel in der Hochebene Hardangervidda

Wandern im Regen …

Gegen Mittag schlägt das Wetter um, es beginnt ausdauernd zu regnen. So what, damit mussten wir rechnen. Wir sind entsprechend gerüstet und packen auch die Rucksäcke in Regenhüllen ein. Nach und nach lässt der Dauerregen allerdings die Gespräche verstummen, jeder konzentriert sich schweigend auf den nächsten Schritt. Nasser Fels und aufgeweichter Boden fordern erhöhte Aufmerksamkeit.

Am frühen Abend erreichen wir den geplanten Zeltplatz, in Nachbarschaft zu einer bereits geschlossenen Hütte. Gekocht wird unter ungemütlichen Bedingungen im Windschatten eines eingestürzten Schuppens, und wir essen in den Zelten.

Über Nacht sinkt die Temperatur. Am nächsten Morgen schauen wir in eine weiß überzuckerte Landschaft. Noch sehen wir allerdings kein Problem – die Temperatur liegt knapp über Null, und es nieselt nur leicht. Nach gutem Kaffee und ausgiebigem Frühstück (großvolumige Rucksäcke haben auch Vorteile) geht es weiter. Zuvor allerdings machen die Rookies noch eine neue Erfahrung: Auf einer baumlosen Hochebene kann es sein, dass man weit laufen muss, um ein „Stilles Örtchen“, außer Sichtweite zu finden …

Der Morgen vergeht im entspannten Marsch, zwischendurch lädt ein Schneefeld die Jungs zu einem Rutschversuch ein, bevor die Vidda in Form eines extrem strammen Winds am Südostufer eines Sees wieder ihre Zähne fletscht und eindrucksvoll zeigt, was unter „Windchill-Effekt“ zu verstehen ist.

Fröstelnd kauern wir uns im Windschatten zusammen und werfen die Kocher an. Zu Hause würden die Tütensuppen wohl unbeachtet im Regal liegen bleiben, aber jetzt retten sie Mittagspause wie Laune und gehen weg wie „warme Semmeln“.

… und dann kommt der Schnee

Die Kälte kam aber wohl doch nicht nur vom Wind. Es fängt erst langsam, dann immer stärker an zu schneien. Zunächst schmilzt der weiße Stoff noch auf dem pitschnassen Boden, aber dann bleibt er liegen und die ohnehin beeindruckende Stille um uns herum wird zusätzlich in Watte gepackt. Nebel zieht auf, und wir beschließen die Zelte aufzubauen, bevor das letzte Tageslicht verschwindet. Jede „Zeltbesatzung“ kocht für sich in der jeweiligen Apsis, aber die Zelte stehen dicht genug für eine Unterhaltung von Zelt zu Zelt. Dann schlafe ich – wie ein Stein.

Morgens, gegen sechs Uhr treibt es mich aus dem Zelt. Die Temperatur liegt deutlich unter Null, der Boden versteckt sich unter knapp zehn Zentimetern Neuschnee und Nebel schränkt die Sicht ein. Den weiteren Tourenplan vor Augen (oft am Seeufer entlang, einige Bach- und Flusslauf-Querungen, sowie ein auf der Karte als „moorig“ gekennzeichnetes Gebiet), interessiert mich jetzt doch die aktuelle Wettervorhersage. Kein Netz.

Ich stapfe ein paar hundert Meter durch den Schnee den Hang hinauf, und siehe da, oben angekommen, klappt es mit der gewünschten Information: Die Temperaturen bleiben im Minusbereich und die Niederschlagswahrscheinlichkeit liegt bei 70%. Unter dem Schnee ist die Beschaffenheit des Bodens schon jetzt nicht mehr zu erkennen, und falls es noch deutlich mehr Schnee geben sollte, könnte es zum Problem werden, dass Schneeschuhe oder Ski diesmal nicht zu unserer Ausrüstung gehören.

Trekkingtour in Norwegen - verschneites Zelt in der Hochebene Hardangervidda

Die Szenerie lässt die Jungs nicht kalt – eine Mischung aus Staunen und Stolz bestimmt ihr Gespräch beim Frühstück, während Andreas und ich abzuschätzen versuchen, was Wetterlage und –vorhersage für unseren ursprünglichen Plan bedeuten.

Querfeldein zurück nach Haugstøl

Wir sind uns rasch einig, dass wir mit deutlich mehr Zeit bis Geilo rechnen müssen – naja, den Zug hierher haben wir ja auch schon verpasst … Das Risiko, mit noch mehr Schnee klarkommen zu müssen, würden wir alleine wohl eingehen, aber wir haben auch die Verantwortung für die Jungs und dabei beide kein gutes Gefühl.

Wir beschließen, die Route zu ändern, nicht weiter nach Osten, sondern „querfeldein“, das heißt nördlich – wieder in Richtung Haugstøl, unserem Ausgangspunkt zu laufen. Einen Pfad und Wegmarken gibt es jetzt nicht mehr. Wir wandern nur mit Karte und Kompass und orientieren uns mithilfe von Landmarken. Das klappt auch gut – gelernt ist schließlich gelernt. Das Gehen über die verschneite Vegetation ist angenehm, wenn auch langsam. Vorsicht ist geboten in verblocktem, gerölligem Terrain, schon bei optimalen Wetterverhältnissen immer anstrengend, kommt jetzt noch eine ausgeprägte Rutschgefahr hinzu.

Schneelandschaft in der Hochebene Hardangervidda

Disco in der Einöde

Alles geht gut, der befürchtete zusätzliche Schnee bleibt aus. Am frühen Nachmittag suchen wir uns einen Platz für die Zelte. Steine und Geröll, weiß überzuckert, soweit das Auge blickt, aber keine größeren Felsformationen, die geeignet wären, Windschutz zu bieten. Der Himmel klart auf, und die Temperatur zieht bereits merklich an – die Nacht wird kalt werden.

Die Rucksäcke geben immer noch jede Menge kulinarischen Luxus her, aber für gemütliches Rumsitzen ist der Platz nicht gemacht – ab in die Schlafsäcke. Die Jungs im Nebenzelt sind dann wieder gut für eine Demonstration, dass das Thema Gewicht beim Rucksackpacken auch überbewertet werden kann. Ihnen steht der Sinn heute offensichtlich weniger nach Genuss der Stille als nach Zeltparty. Andreas und ich können es nicht fassen, aber aus dem Nebenzelt wird die Vidda via Bluetooth-Box mit aktuellen Hits beschallt.

Zwei verschneite Tatonka-Zelte in der Hardangervidda

Andreas treibt es am Morgen als ersten aus dem Schlafsack. Mein Blick fällt auf meine Schuhe in der Apsis, das Leder ist von einer feinen Eisschicht überzogen. Andreas kommt gar nicht wieder – irgendwas muss da sein. Rein in die vorgewärmten Klamotten und rein in die Schuhe. In der Tasse ein gefrorener Rest Tee. Raus aus dem Zelt. Wahnsinn!

Die Hochebene Hardangervidda nach dem ersten Schnee im Oktober

Die ersten Sonnenstrahlen haben der Kälte und dem Eis den Kampf angesagt, und der Blick wandert, wie von einem Magneten gezogen, Richtung Norden, wo sich der knapp 2000 Meter hohe Gebirgskamm Hallingskarvet weiß verschneit in der Morgensonne präsentiert. Hangabwärts ist, fast wie mit dem Lineal gezogen, die Schneefallgrenze zu erkennen. Wir machen ein Handy-Foto nach dem anderen und bedauern, auf die Mitnahme einer wirklichen Foto-Ausrüstung verzichtet zu haben.

Die Belegschaft des Party-Zelts dagegen hat Schwierigkeiten, aus den Schlafsäcken zu kommen und verpasst das Beste.

Hardangervidda - Rast neben den Zelten nach der Tageswanderung

Im Tagesverlauf setzt sich die Kraft der Sonne durch, wir verlieren mit jedem Kilometer an Höhe und es wird regelrecht warm. Der Tag klingt entspannt, bei gutem Wetter, draußen sitzend aus.

Zurück in der Zivilisation!

Am nächsten Morgen müssen wir bis 11:30 Uhr wieder an der Bahnstation sein. Bei bestem Wetter läuft alles schneller als gedacht, und gegen zehn Uhr sind wir wieder in Haugstøl. Die Bahnstation bietet einen kleinen, gut beheizten Aufenthaltsraum.

Während Andreas und ich im Windschatten des Gebäudes den Kocher anwerfen, um mit einem letzten Espresso, Rum und dunkler Schokolade die gelungene Tour zu feiern, verschwinden die Jungs im Aufenthaltsraum.

Als wir nachsehen, lümmelt der Haufen herum, die Rucksäcke auf der Suche nach den letzten Köstlichkeiten auf links gedreht, an jeder passenden und unpassenden Stelle im Raum hängen Klamotten und Handtücher zum Trocknen, die Luftfeuchtigkeit hat Tropen-Niveau, und das Ganze ist garniert mit einer ganz speziellen Duftmischung aus Salami, pubertärem Testosteron, Duschgel, getragener Funktionsunterwäsche und Deo. Der Einmann-Toilettenraum in der Ecke hatte gerade seinen ganz großen Auftritt!

Eigentlich kein schlechter Plan, sich ein wenig frisch zu machen – und so schaffen wir es, bei der Rückfahrt doch tatsächlich fast so auszusehen, als ginge es gerade erst los – aus Sicht der Mitreisenden: Glück gehabt!